Martin Bötzinger. Ein Lebens- und Zeitbild aus dem 17. Jahrhundert

 

Achtes Kapitel

Öl und Wasser

(1623 und 1624)

 

Aus Mangel der sumtuum hatte Martin Bötzinger Jena verlassen müssen. Ein Jahr vorher hatte er aus demselben Grund der Akademie den Rücken gekehrt und war mit dem Magister Mengeringio, dessen Famulus er gewesen war, auf seinen ersten Kirchendienst nach Collwitz in Sachsen gegangen. Dort war er aber bald nach Weihnachten mit dem Herrn Magister „über dem Nachtstudieren aufstutzig“ geworden und hatte Urlaub erhalten. Er war in patriam gezogen und hatte unter Dr. Finkio in Koburg publice disputieren müssen. Die abermalige Zusage des Stipendium Muppergense hatte ihm den nochmaligen Besuch der Universität Anno 1623 ermöglicht. Nun war er wieder in patriam und „exspektierte“ und übte sich im Predigen, wie er sich in Collwitz schon „oft und viel exerziert concionando.“

Außen an der Mauer des Schloßgartens zu Birkig stand ein alter Holunderbaum. Seine schwarzen Beeren glänzten in der Herbstsonne wie Wachs, und ein Rotkehlchen, das sie sich hatte schmecken lassen, sang leise sein Reiselied. Auf dem Muckberg war aus der verwichnen Nacht eine Nebelkappe sitzen geblieben wie eine Schlafmütze für den Winter, die dem alten Träumer recht gut stand: Blitz und Donner, von denen die Seelen der Berge an die Oberfläche gezogen werden, waren verschollen. Auf den Wiesen weideten Rinder, und unter den Kohlköpfen scharrten die Rebhühner.

Da schlich ein Bauernbube an der Gartenmauer hin, kletterte an dem alten Holunderbaum empor, schwang sich auf die Mauer und durchspähte mit seinen frischen Augen den Garten. In Mupperg läutete es zum erstenmal zur Kirche. Wie eine Katze sprang der Bube von der Mauer hinab in den Garten und kletterte auf einen Birnbaum, auf dessen einladende Früchte ers abgesehen haben mochte.

Kaum hatte er die Krone erreicht, als die „Schloßbubn“ mit Armbrüsten schreiend und singend in den Garten gestürzt kamen. Der Bube auf dem Birnbaum rührte sich nicht.

Aber bald mußte der arme Sünder erfahren, daß die Birnen, zwischen denen er saß, auch das Ziel der kleinen Schützen hatten werden sollen. Freilich kams nun anders. Als die edeln Herrlein den Birndieb erblickten, riefen sie: „Ein Birnmarder! Hallo, Stöphel! Jetzt halt dich fest an! Hurra! Bist besser zu treffen als eine Birne. Wolln dir helfen Birnen mausen, warte!“

Ein Bolzen nach dem andern wurde von den eifrigen Schützen unter Geschrei und Gelächter nach dem Birnmarder geschickt. Der geängstete Bube kletterte in der Krone des Baumes so weit empor, als es ihm möglich war, aber umsonst! Schon blutete ihm das Gesicht, und er fing an, zu heulen und zu wehklagen. Da kam der edle und gestrenge Dietrich von Birkig und sah das verwegne Spiel seiner Söhne. „Laßt ab!“, rief er, „und du da oben steige flugs herunter! Was! Du blutest? Nimm das als ein warnendes Exempel mit auf deinen Lebensweg! An kleinen Läppchen lernen die Hunde das Lederfressen!“ Der aus seiner Angst befreite ließ sich am Baumstamm herabgleiten und lief der Gartentür zu und davon.

Zu seinen Söhnen aber sprach der edle Herr: „Und ihr sollt nicht Richter sein wollen, maßen ich hier zu gebieten habe, ihr aber erst noch informiert werden müßt in Sachen des Rechts und Unrechts. Jetzt folgt mir nach Mupperg in die Kirche; wolln den jungen Bötzinger einmal predigen hören!“

Der edle und gestrenge Dietrich von Birkig wanderte mit seinen Söhnen nach Mupperg, sprach im Kastrum vor und begab sich dann in Begleitung des Herrn von Schaumberg in die Kirche in den Herrenstand. Eben wurde das Predigtlied angestimmt. Das Kirchlein ware gefüllt, und die Choralwogen umfluteten die Andächtigen.

Da erschien der junge Theolog auf der Kanzel, und als die letzten Klänge verhallt waren, begann er: „Es ist ein Schreien durch die Welt wider den Antichrist. Aus dem päpstlichen Lager kletterts auf Sturmleitern empor und schallt über die Berge; und aus der Evangelischen Hälsen steigt Rauch auf als von einem Feuer, das die Widerwärtigen verzehren soll. Da ist ein Christ wider den andern, und jeder Christ ist ein Antichrist, sintemal die Friedenspredigt des Heilands: „Kindlein, liebet euch unter einander!“ nicht gehöret wird – in keinem Lager. Der Haß fährt einher als ein wütiger Drache, und ist keiner, der dem Lindwurm gewappnet begegnen möchte. Steht in Israel kein Prophet auf, der euch sagt, daß ihr alle am Verderben käuet? So will ich den Hesekiel rufen, der im fünfzehnten Vers des siebenten Kapitels also spricht: „Auf den Gassen geht das Schwert, in den Häusern geht Pestilenz und Hunger. Wer auf dem Felde ist, der wird vom Schwert sterben; wer aber in der Stadt ist, den wird Pestilenz und Hunger fressen. So zittert nun vor dem Hesekiel und schließt eure Türen zu und geht auf das Gebirge, oder seid wie die Tauben in den Gründen, die alle unter einander girren; ein jeglicher um seiner Missetat willen.“

Der junge Martin Bötzinger hielt über dieses Thema eine Predigt als ein neuer Hesekiel in Vorahnung des unendlichen Elends, das der greulichste aller Kriege noch über sein Vaterland bringen sollte.

Der Gottesdienst war zu Ende, und der edle und gestrenge Dietrich von Birkig stand mit seinen Knaben und dem Herrn von Schaumberg auf dem Kirchhof. Die Gemeinde war ehrfurchtsvoll grüßend vorüber gegangen. Zuletzt kam Herr Joseph Bötzinger mit seinem Sohn, und aus seinem Auge leuchtete wieder das heimliche Freudenflämmchen. Aber der Ernst auf des Küsters Antlitz nahm sich aus wie ein nächtlicher Hintergrund. Durch die Blässe, die auf des Sohnes Gesicht die gewichne Aufregung zurückgelassen hatte, begann auf den Wangen ein leichtes Rot zu brechen, als ihnen die edeln Herren grüßend die Hände schüttelten.

Nachdem man seine Verwundrung ausgesprochen hatte über die kräftige Predigt des Anfängers, wandte sich Herr Dietrich von Birkig an Martin Bötzinger: „Meine Buben sollen einen Informator bekommen; ich halte dafür, daß Er sich dermalen als Exspektant wohl dazu schicket; und wenn Er dieses Hausamtes bei mir warten will, kann Er morgen zu uns herüberziehen.“

Des alten Bötzingers Freudenflämmchen fing an, kräftiger zu leuchten. Und als der Sohn unter Zustimmung des Vaters bereitwilligst auf den Antrag einging, wurden sofort die gaffenden Rangen ihrem Informator dem Namen und Alter nach vorgestellt und angewiesen zur Begrüßung durch Handschlag.

Die geschäftige Margret rüstete in der Schule den Mittagstisch und schwebte, obgleich beinahe eine Mandel Jahre älter, noch ebenso elastisch durch das Haus wie damals, als sie räucherte und Zaubersprüche murmelte. Damals ward sie von Angst getragen, heute von hoher Freude; denn der Schultheiß hatte im Vorbeigehen ans Fenster gepocht und hineingerufen: „Frau Schulmeisterin! Das war einmal wieder eine Predigt von Ihrem Martin! Wir haben das freudige Amen des seligen Großvaters vom Himmel herunter gehört.“ Und die Frau Dorfmeisterin hatte auch im Vorbeigehen „einen Sprung“ in die Schule getan und zur Frau Schulmeisterin gesagt: „He, Frau Schulmeisterin! So was! So was! Der Birkiger Herr und unser Herr haben vor der Kirch auf Ihren Martin gewartet und ihm die Hand gedrückt wie dem Herzog. Der wird Generalsuperdent, geb Sie nur Achtung!“

Die verständige Frau Margret freute sich schon genug über den Informator auf dem Schloß zu Birkig, als die Männer die Neuigkeit brachten: der „Generalsuperdent“ wurde einstweilen in der Bindlacher Kräuterschachtel aufbewahrt auf dem beblümten Kleiderschrank im obern Stübchen der Schule zu Mupperg.

Am folgenden Morgen hielt Martin Bötzinger seinen Einzug als Informator auf dem Schloß zu Birkig. Das ihm angewiesene „Amtszimmer“ lag nach dem Garten zu. Er stellte seine Bibliothek auf, die eben ein Schiebkärrner gebracht hatte, und richtete sich „auf Jenaisch“ ein. An einem großen Auszugtisch aus Eichenholz in der Mitte der Stube sollte von nun an Herr Martin Bötzinger den jungen Herrlein von Birkig geistige Speise verabreichen. Sie standen da und verfolgten mit ihren einfältigen Gesichtern jede Bewegung ihres Informators. Endlich fragte der kleine Kunz etwas betreten: „Müssen wir Eure Bücher da alle durchlernen?“

Mein lieber Kunz, erst lernen wir das ABC“, sagte Martin und stellte wieder einen Band an seinen Platz.

Ihr habt das ABC wohl nicht zu lernen brauchen?“

Ja wohl, mein Kunz, hab auch das ABC erst lernen müssen.“

Kunz nahm ein Buch, schlug es auf und blickte mit viel Wichtigkeit bald auf die eine, bald auf die andre Seite. Endlich fragte er: „Die Buchstaben sind doch alle schwarz; warum ist der da voran rot?“

Da hat sich der Flacius mit seiner Schere in den Finger gestochen. Davon ist der Buchstabe rot geworden.“

Wer war der Flacius?“

Ein garstiger Mann und ein Dieb!“

Hat der auch Birnen gemaust?“

Ja; aber die zu hoch gehangen haben, hat er hangen lassen.“

Da war er dumm. Die Birnen, die hoch hängen, schieß ich mit der Armbrusſt herunter.“

Triffst du denn die, mein lieber Kunz?“

Manchmal nicht. Aber nächten habn wir ein lustig Schießen im Garten gehabt!“

Ein größerer Bruder hielt plötzlich dem kleinen Kunz den Mund zu. Bötzinger bemerkte es und befreite den geschwätzigen Mund. „Mein lieber Kunz, wes Art war euer Schießen?“ Da liefen die andern davon. Aber Kunz erzählte ganz vergnügt weiter: „Saß so ein Birndieb auf dem Baume, wo die besten hängen. Aber wir haben mit unsern Armbrüsten nach ihm geschossen, und da hat er auch rote Buchstaben im Gesicht bekommen. Er hat aber die Birnen nicht mit der Schere abgeschnitten.“

Da trat eine Küchenmagd ein mit rußigen Armen und sagte: „Der Herr Invermachter soll zu Tisch kommen.“

Kunz hing sich an den rußigen Arm und lief vergnügt von dannen, und Herr Bötzinger begab sich regulären Appetits ins Speisezimmer. Die Armbrustschützen waren bereits da und schielten verschmitzt nach dem eintretenden Herrn Informator, dem von dem edeln und gestrengen Herrn Dietrich von Birkig der Tischplatz angewiesen wurde.

Eine dampfende Suppe wurde aufgetragen.

Christoph, bete!“, sagte der Herr des Hauses. Und mit ebenso einfältiger Betonung, als sein Gesicht war, sprach Christoph: „Aller Augen warten“, darnach das Vaterunser und zum Schluß: „Komm, Herr Jesus.“

Martin stand im Begriff, sich bescheidentlich mit der Suppe abzufinden, und dachte bei sich: „ist zwar auch nur Suppe, schmeckt aber immerhin besser als in Jena.“ Wie staunte er aber, als eine Magd einen gebratnen Hasen, und eine andre ein halb Dutzend gebratne Rebhühner auf die Tafel brachte! Ein solcher Duft war ihm noch nie in die Nase gefahren, und als er so dasaß vor diesem herrlichen Überfluß und an sein kärgliches Leben in Jena dachte in der teuern Kipperzeit, kam es ihm gar nicht mehr so sündlich vor und sträflich, daß sich die Kinder Israel in der Wüste nach den Fleischtöpfen Ägyptens gesehnt hatten. Später ward auch noch ein großer Krug würzigen Bieres vorgesetzt.

Martin erzählte von seiner kärglichen Kost in Jena, und wie knapp es bei ihm hergegangen sei. Da versicherte der Edle Dietrich: „Auch wir spüren hart die Not unsrer Zeit. Für Geld ist nichts zu haben, das ist ja schlecht wie Spreu! Aber an dem, was uns Flur und Wald bietet, lassen wirs nicht fehlen in der Küche, sonderlich zur Herbstzeit, so wir des edeln Weidwerks mit nicht zu geringer Geschicklichkeit pflegen. – War auch in Jena. Wills Ihm gleich beweisen mit einer Probe Latein, das er nachher übersetzen mag.

 

Bursta Studentorum finstri sub tempore nachti

Cum Sterni leuchtunt, Monus quoque scheinet ab himmlo,

Gassatim lauffent per omnes Compita gassas,

Cum Geygis, Cytharis, Lauthis, Harpffisque spilentes.

 

Der Edle Dietrich brach in ein unbändiges Lachen aus. Martin Bötzinger stimmte bescheiden ein; und die Buben, die sich anfangs entsetzt hatten ob des Vaters Kauderwelsch, ließen endlich einer lauten Ausgelassenheit die Zügel schießen, sodaß die gnädige Frau ein ernsthaftes Veto einlegen mußte in Rücksicht auf ihre Nerven.

Die Wintertage gingen für Martin Bötzinger auf Schloß Birkig hin, geteilt zwischen Informieren, Studieren, Essen, Trinken und Schlafen.

Wenn man uns sagt: Auf Regen folgt Sonnenschein oder: Es kann nicht immer Winter bleiben; endlich muß es Frühling werden, so müssen wir es uns gefallen lassen, obgleich es nicht immer zutrifft.

Auch in Birkig war dem Winter vom März das Wanderbuch visiert worden; aber der Frühling wollte nicht kommen. Bei Sonnenschein war Martin Bötzinger mit seinen Zöglingen ausgezogen nach Mupperg in die Schule und hatte unterwegs Gänseblümchen gepflückt und Sommertürle – und am Abend war er in Schneegestöber nach Hause getrollt – hatte es aber fürs Mailüftchen gehalten.

Martin Bötzinger, der du an den Frühling glaubst, du bist betrogen, bist im Wahn befangen, ganz deiner Philosophie gemäß. Wenn dich höchste Lenzeswonne erfüllt, trifft dich der kalte Winterschlag. So geht es dir dein ganzes Leben. Und weil dein Leben ein Spiegel aller Leben ist, darum soll es niedergeschrieben sein, damit du Recht behaltest mit deiner Philosophie.“

Wir wollen nun zusehen, wie es kam, daß Martin das Schneegestöber für Maienodem gehalten hat.

Auf Fastnacht war in der Schule zu Mupperg das brüderliche Gratial eingelaufen von Georg Bötzinger, Lichtensteinschem Vogt zu Gemünden: ein ansehnliches Fäßlein Rebensaftes. Martin war mit seinen Scholaren von Frau Margret in der glückseligsten Stimmung bewirtet worden, und der Herr Joseph Bötzinger hatte verstanden, sein Weinkrüglein als anregenden Mittelpunkt des schönen Nachmittages am blütenweißen Ahorntisch zur Geltung zu bringen.

Der Herr Informator war heidenmäßig aufgelegt, und jeder der Schloßbubn grinste vor Wohlbehagen wie der Vollmond vor Ostern, denn die Schulmeisterin ließ sich von ihnen viel mehr gefallen als die schwachnervige Edle von Birkig. Dem kleinen Kunz mochte der Spaß aber doch zu lange dauern; er stellte sich mit wichtiger Miene vor seinen Informator und fragte: „Hat er den Brief noch, den ihm meine Mutter an die Frau von Schaumberg mitgegeben hat? Ich will ihn hintragen.“

Wahrhaftig, mein ABC-Schütze, den hätte ich wieder nach Haus getragen, wenn du nicht noch zur guten Stunde dich dessen erinnert hättest. Aber den muß ich selbst besorgen. Ich werde es sofort tun. Ihr bleibt in der Schule, bis ich wieder komme!“

Die zurückgelassenen Schloßbubn begannen mit dem alten Schulmeister: „Stockmeister, ich klag!“ zu spielen.

Im Kastrum aber wanderte der geistliche Briefträger von einer Stubentür zur andern und pochte. Es blieb still. Endlich hörte er hinter einer Tür, an der er noch nicht gewesen war, einen Stuhl rücken. Er ging auf diese Tür zu und pochte auch da an. Es ward geöffnet. Eine junge Dame zeigte sich. Beim Anblick des Störenfrieds wankte sie mit dem Ruf: „Ach, Gott!“ ins Zimmer zurück. Martin aber stürzte nach und vor ihr nieder auf die Knie.

Susanna! Ist Sie es wirklich? Ist das nicht Trug und Wahn? Susanna!“

Ich bins! Steh Er auf, Herr Bötzinger!“

Susanna ergriff Martins Hand, wie um ihn aufzurichten. Aber der vor Überraschung fast Erstarrte wehrte ab und sagte: „Nicht eher, bis Sie mir sagt, was Sie hieher geführet und wessen ich mich zu versehen habe. Ich habe viel um Sie gelitten!“

Steh Er doch auf, Herr Martin! Ich bin in diesen Tagen von Rauenstein hieher zu meiner Base auf Besuch gekommen und bleibe diesen Sommer hier. Aber stehe Er auf! Meine Base ist heute vormittag nach Koburg gefahren und kann jeden Augenblick kommen.“

Schon wurden Tritte auf der Treppe hörbar. Susanna war wie von der Luft getragen an Martin vorüber und durch die Tür verschwunden, die sie hinter sich verschloß, worauf sie den Schlüssel zu sich steckte.

Es war die Frau von Schaumberg mit ihrer Magd, von denen die Tritte herrührten. Die gnädige Frau erwiderte den Gruß Susannas freundlich und begab sich auf ihr Zimmer, wohin ihr auch Susanna und die Magd folgten. Diese begann der gnädigen Frau beim Umkleiden zu helfen. Um ihre Aufregung zu verbergen, machte sich auch Susanna mit Dienstleistungen für die edle Frau zu schaffen.

Ich habe dir neue Noten für deine Laute von Koburg mitgebracht. Weil der Herr Wolfgang vor sechs Wochen nicht wiederkommen wird, müssen wir für Zeitvertreib sorgen.“

Das freut mich über die Maßen sehr! Wo habt Ihr sie, Frau Base?“

Der Kutscher wird sie mit den andern Sachen im Kasten haben.“

Ich werde alles heraufholen.“

Susanna huschte davon. Im Korridor stieß sie auf den kleinen Kunz, der sich nach seinem Informator umsehen wollte. „Zu wem willst du, Kleiner?“, fragte Susanna.

Zur Edeln von Schaumberg.“

Geh dort zu jener Tür hinein.“

Weiß schon!“, entgegnete Kunz und verfügte sich heiter in das Zimmer der gnädigen Frau.

Diesen Augenblick benutzte Susanna zur Befreiung des lieben Gefangenen. Der stand in der Mitte des Zimmers mit gefalteten Händen, schier wie einst vor dem Dom zu Würzburg. Er hatte sich langsam erhoben und hatte große Mühe, fest zu stehen, denn das Kastrum schwankte auf und nieder und schien in eine rotierende Bewegung übergehen zu wollen. Ehe es jedoch dazu kam, drehte sich der Schlüssel im Schloß. Susanna schlüpfte in das Zimmer und legte dem konfusen Kandidaten die weiße Hand auf den Mund, während sie ihm ins Ohr flüsterte: „Geschwind fort von hier, daß meine Base nichts merkt; wir treffen uns bald einmal abends im Garten.“ Sie zog den Verblüfften wie einen Traumwandler an die Treppe und eilte in das Zimmer ihrer Base zurück.

Da ist ein Scholar, der seinen Informator sucht, der einen Brief für mich gebracht haben soll. Hast du etwas für mich erhalten, Susanna?“, fragte die Edle von Schaumberg.

Ach, den habe ich fortgeschickt –“ entgegnete Susanna.

So hole ihn nur wieder zurück. Du hast dich diesmal geirrt; er ist kein Spolierer.“

Wenn ich nur wüßte, wo er hingegangen wäre!“, wendete Susanna ein.

Das weiß ich; ich will ihn holen!“, rief Kunz und lief davon. Der Informator stand noch auf der Treppe, wo ihn Susanna hingeführt hatte, und Kunz jubelte ihm zu: „Ist recht, Herr Bötzinger, daß Er wieder gekommen ist! Ich wollt Ihn vorhin suchen; aber Er war schon von der Jungfrau fortgeschickt worden. Aber die Frau von Schaumberg hat gesagt, er wär kein Spolierer, und ich soll Ihn zu ihr führen.“

Kunz hängte sich an Martins Arm und zog ihn nach dem Zimmer der gnädigen Frau. „Hier bring ich ihn schon!“, rief Kunz, als er mit seinem Herrn Informator eintrat. Die verlegne Susanna zog sich auf ihr Zimmer zurück und drückte ihr Gesicht schluchzend in ein Polster.

Die Edle von Schaumberg befahl ihrer Magd, einen Krug Malvasier zu holen, und nötigte den Herrn Kandidaten, sich neben ihr niederzulassen. Sie drückte ihm die Hand aus lauterer Dankbarkeit, von der ihre Brust erfüllt sei in Ansehung der Predigt, die er vor acht Tagen gehalten habe. Dem kleinen Kunz ward das gelehrte Gespräch, das die edle Dame mit seinem Informator anknüpfte, zu langweilig, und er entfernte sich mit der pfiffigen Bemerkung: „Will die andern auch holen.“

Eine halbe Stunde darnach – der Krug war geleert – verabschiedete sich Martin Bötzinger mit seinen Zöglingen von der Edeln von Schaumberg, und diese bat ihn, seinen Besuch doch recht oft zu wiederholen – mit Scholaren oder ohne Scholaren. Sie versicherte, daß ihr eine gelehrte Unterhaltung über alles gehe.

In dem Gespräch mit der Edeln von Schaumberg bei einem Becher Malvasier war von Martins Seite des Erklecklichen wenig gefallen; er war durch sein unverhofftes Zusammentreffen mit dem einstigen Saalbackfisch, der sich zu einer schönen Jungfrau entwickelt hatte, so aus Rand und Band geraten, daß die gnädige Frau in den Wahn gekommen war, ihr Wesen habe den jungen Mann so bestrickt.

Wahn ohn Ende! – Es dämmerte schon.

Draußen auf der Straße blies ein scharfer Nordwind ein kaltes staubiges Durcheinander dem in Gesellschaft seiner Scholaren heimkehrenden Informator um den heißen Kopf. Aber durch diese hohngeschwängerte Atmosphäre, durch diesen Wintersturm hindurch schritt Martin Bötzinger mit einem Frühling in der Brust, vor dem alles Eis kracht und die Schollenberge alle Brückenpfeiler sprengen, der in Lerchengesang und Nachtigallenschlag schwimmt und den Mai auf den Schultern trägt. Und die Buben umschwärmten ihn in ausgelassener Lustigkeit und dekorierten als Satyrn seinen inwendigen Frühling.

Am Schloßtor zu Birkig sagte der kleine Kunz: „Herr Bötzinger! Am Ende haben wir doch den Brief noch?“

Da wurde der Herr Informator etwas ernüchtert und sprach: „Hast Recht, mein lieber Kunz!“

Am andern Morgen kam Kunz zu seinem Informator und sagte: „Er soll mir den Brief geben; der Johann soll ihn mit nach Mupperg nehmen!“

Es war ein sonderbares Gemüs, was an diesem Tage an dem eichnen Auszugtisch in dem auf „Jenaisch“ eingerichteten Amtszimmer des Informators den Schloßbubn verabreicht wurde. Während die Ältern ihr Futter in lateinischen Reimen kauten und der „liebe Kunz“ seine Hieroglyphen malte, lehnte der Pädagogus privatissimus zum öftern sein gedankenschweres Haupt an das Fensterkreuz und starrte in die sich draußen ausbreitende Winterlandschaft. Hatte ihn nicht gestern ein zartes Grün aus diesem Garten angelacht? Ach, diese wetterwendische Natur machte ihm keine Schmerzen. Ein Frühling tobte in ihm, dessen Kraft alles hinter sich ließ, was ihn umgab. – Hatte sie nicht gesagt: „Wir treffen uns bald einmal abends im Garten?“ – Bald! Eine lange Nacht war vergangen: ein bleierner Tag war angebrochen. O, wie lange dauert so ein Tag! – Endlich kam der Abend. Was heißt „bald“? Wenn es ein „bald am Abend“ noch gibt, so kann nur dieser Abend gemeint sein.

Martin eilte zum Tor hinaus und schlug den Weg nach Mupperg ein. Der Schnee knurrte unter seinen Füßen. „Im Garten!“ klang es ihm im Ohr. Er kam an dem Garten an, an dem Garten des Kastrums, stieg auf die Mauer und durchspähte in großer Aufregung, was da vor ihm lag im Schnee. Aber er sah immer noch nicht den Schnee. Da aber auch die Jungfer Susanna nicht zu sehen war, sprang er wieder herunter von der Mauer und umkreiste das Kastrum gleich einer Wache. Dann kletterte er abermals auf die Gartenmauer. Als er aber wieder nichts sah, ging er niedergeschlagen nach Haus.

Am andern Tage lag der Informator im Fieber und konnte nicht der Pflege der ihm Anbefohlnen obliegen. Der Gestrenge und Edle von Birkig stand an dem Lager des Kranken, schüttelte das Haupt und murmelte: „Es ficht ihn hart an.“ Er schickte Johann nach Mupperg und ließ dort in der Schule sagen, daß der Herr Sohn recht krank sei.

Nach anderthalb Stunden stand Frau Margret und Herr Joseph am Krankenbett des geliebten Martin. Es war schlimmer als in Koburg am Vorabend des Stahlbogenschießens. Während Herr Joseph aus seines Sohnes Bibliothek die Hauspostille hervorsuchte, für den Kranken ein Gebet zu sprechen, eilte Margret in den Garten. Sie lief der Mauer entlang und blieb da, wo von dem alten Holunderbaum Zweige in den Garten hingen, stehen, brach sieben Triebe aus verwichnem Sommer ab und eilte damit auf das Krankenzimmer. Dort entfernte sie die äußere graue Schale und schabte das darunterliegende Grün ab, legte es auf ein Leinentuch und band es dem Patienten auf die heiße Stirn; darnach bestrich sie die klopfende Schläfe mit ihrer Salbe, eilte in die Küche und kochte Lindenblütentee. Aus ihrer Bindlacher Kräuterschachtel hatte die vorsorgliche Mutter mitgebracht, was für alle Fälle gut war.

Nachmittag kehrte Herr Joseph Bötzinger nach Mupperg zurück. Margret blieb bei dem kranken Sohne, legte, so oft das Grüne trocken war, frisches auf, netzte den trocknen Mund mit ihrem Lindenblütentee, schob das Kopfkissen zurecht, unterhielt das Feuer im Ofen und horchte gespannt auf den Atem, wenn der Kranke in Schlummer kam. Der Schlummer war freilich unruhig: Martin begann öfter laut zu sprechen, bald in feierlichem Predigtton, bald informierend, als säßen die Schloßbubn vor ihm – bald von der großen Fledermaus, bald vom Rudolstädter Löwenwirt auf der Brunnröhre. Als er stürmisch vom Brandenstein, Rauenstein oder dem Kastrum sprach und dazwischen der Name Susanna fiel, starrte die geängstigte Mutter den Phantasierenden an wie einen Fremden. Wenn so ein Sturm vorüber war, und der Schlummer ruhiger wurde, dann studierte die Mutter dieses teure Antlitz, worin mit dem unerklärlichen Etwas, das Martin einst von seiner Würzburger Reise mitgebracht hatte, mancher neue Rätselzug zusammenfloß. Das ihr völlig Fremde, das sie aus seinem Munde hörte, weckte die Rätsel in dem Antlitz, die ihr seither entgangen waren. – Wie scharf auch das Mutterauge ist: wenn ein andres weibliches Wesen durch Auge und Ohr dem Sohn ins Herz dringt und dort neben dem Mutterthron einen zweiten Thron aufschlägt, dann trägt der Jüngling Gefilde in seinem Busen, die dem Mutterblick verborgen liegen. Und spiegelt sich der Glanz dieser verborgnen Gefilde ab in dem Antlitz, so wird er für den Mutterblick zum Rätsel, bis die Schranken fallen und in dem Mutterherzen neben dem Throne des Sohnes noch ein neuer für eine Tochter errichtet wird.

Aber diese Schranken, vor denen jetzt die Mutter stand, brauchten nicht zu fallen. Der zweite Thron in Martins Brust sollte verwüstet werden.

Die Kunde von seiner Erkrankung war auch in das Kastrum von Mupperg gedrungen. Die Edle von Schaumberg war davon tief betroffen worden. Ihre Hoffnung auf die öftern Besuche des hübschen Informators und auf die „gelehrten Unterhaltungen“ mit ihm war nun vor der Hand in den Brunnen gefallen.

Es wird nicht so schlimm sein“, dachte sie. Aber ihre Unruhe wuchs. Ihre Nerven waren zwar etwas robuster als die der Edeln von Birkig; aber der Traum spielte als ein Erzlautenschläger doch die gewagtesten Phantasien darauf.

Am dritten Tage schon wurde sie von der Sorge um den jungen Mann zu einem Besuch bei der Edeln von Dietrich auf Birkig getrieben.

Nach einer etwas steifen Begrüßung verfügten sich die nachbarlichen Edeldamen in das Gemach der Freifrau von Birkig.

Ein inhaltloses Gespräch hatte bereits ein Stündschen verschlungen. Da kam es wie zufällig auch auf die Erkrankung des Informators, aber beinahe als auf eine kaum erwähnenswerte Nebensache.

Beim Scheiden warf die Frau von Schaumberg hin: „Ich will wünschen, daß es mit dem klugen Theologus bald besser wird. Er hat verwichen eine tapfere Predigt gehalten.“

Die Damen standen in der Hausflur, und eben kam Frau Margret mit sieben jungen Holundertrieben aus dem Garten. Sie wurde von der Herrin von Mupperg, nachdem die Edle von Birkig naserümpfend hinter ihrer Tür verschwunden war, gefragt, wie es mit dem Herrn Sohn gehe, und ob es erlaubt sei, einmal nach ihm zu sehen?

Die Frau Schulmeisterin öffnete gehorsamst die Tür des Krankenzimmers zum Eintritt für die Herrin von Mupperg.

Der Kranke hatte eben wieder einen heftigen Fieberanfall. Des Äneä Sylvii historisch Werk, Saaltorturm, Susanna, Drache, Kutsche und allerlei Dinge jagte das Fieber dem Informator durch den Kopf und laut über Zunge und Zähne, daß es der Edeln von Mupperg gruselnd über die Haut lief.

Susanna!“ hallte es in ihrem tiefsten Innern nach. Da aber bald der „Drache“ hinterdrein kam und der Fiebernde ein Theologus war, so wandten sich die Gedanken der beinahe schon Gereizten von der Susanna aus Fleisch und Blut daheim im Kastrum ab und der biblischen Susanna samt dem Drachen in Babel zu.

Es war für die Frau höchst ärgerlich, daß sie auf dem Heimwege immer wieder den Ruf „Susanna!“ vernahm. Sie begab sich sofort zu dem Fräulein und fragte in kaum zu verbergender Erregung: „Wie denkst du von dem Informator Martin Bötzinger? Wessen kann ich mich zwischen ihm und dir versehen?“

Susanna wäre vor Schrecken fast zusammengeknickt. Purpurne Röte und Leichenblässe wechselten jäh in dem Gesicht der Angeredeten.

Der Freifrau war das nicht entgangen. Sie glaubte genug zu wissen und drang nicht weiter auf eine Erklärung, fuhr aber in hartem Tone fort: „Besinne dich deines Standes und Geschlechtes! Berg und Tal können nimmermehr zusammen kommen.“

Zornig zog sich die Edle von Schaumberg in ihr Gemach zurück.

Nach der Entfernung der „gnädigen Frau“ sank Susanna wie vernichtet auf ein Polster nieder. Sie bedeckte ihr Antlitz mit beiden Händen und weinte wie ein Kind.

Eine Art Betäubung war dem Schrecken gefolgt. Der dumpfe Schmerz ging nach dem Tränenerguß über in bewußtes Leiden. Von dem kaum empfundnen Glück, das dem Mädchen durch das unverhofffe Wiedersehen Martins bereitet worden wär, hinweggerissen und vor einen gähnenden Abgrund gestellt, begann das Herz der Armen heftig zu schlagen. Ihr trockner Blick starrte ins Leere. Aber aus dem Nichts stieg der leidende Informator empor mit flehender Gebärde. Und nun hatte der Blick ein Ziel und das Herz einen Gegenstand, der eine unbeschreibliche Sehnsucht erweckte. „Zertrümmert der Himmel, der mir einst in Jena aufgegangen war!“ So klagte Susanna, und abermals begann sie zu schluchzen und bitterlich zu weinen.

Die Freiin von Schaumberg hielt sich acht Tage lang zurückgezogen. Sie ward in diesen Tagen weder von Susanna noch deren Mutter, die auch in Mupperg weilte, gesehen, nur eine alte treue Magd hatte Zutritt bei ihr. Es war doch fast wie Scham über sie gekommen ob der Härte, zu der sie sich Susanna gegenüber hatte hinreißen lassen. – War denn nicht auch ein falscher Verdacht schon hinreichend, in so harter Äußerung eine zartfühlende Jungfrau zu erschrecken?

Frau von Schaumberg schämte sich ihres Ausfalls. Aber in weiterdauernder Abgeschiedenheit an der trägen Zeit grübelnd zu zehren war der abwechslungsbedürftigen Frau nicht möglich. Sie begann mit der Mutter Susannas einen notdürftigen Verkehr einzuleiten. Allmählich ward auch Susanna wieder herangezogen. Es schien, als wollte sich das frühere Verhältnis im Hause wieder einrichten.

Aber der Leidenschaftsfunken, der in das Herz der Freiin von Mupperg gefallen war, wollte sich auch unter der größten Anstrengung nicht auslösſchen lassen. Er brannte und glühte fort.

In Martin war nach dem Fieberbrand auch ein lebhaft glühender Funken sitzen geblieben, der die zur Genesung führende Jugendkraſt keineswegs hemmend beeinflußte, im Gegenteil anstachelte zu einem wunderbaren Aufschwung. Mit der Kräftigung an Leib und Seele wuchs aber auch in des Informators Herzensgrund der Funke zu einem stürmischen Feuer dermaßen, daß sein ganzes Wesen von einer mächtigen Sehnsucht nach dem ehemaligen Saalbackfisch erfüllt ward.

Sich wieder auf eine Gartenkreisung ins Blaue hinein einzulassen, verbot ihm seine Erfahrung. Es mußte ein sicherer Schritt getan werden. Darüber war er nunmehr klar.

Ein wonniger Frühlingssonntag war angebrochen. Es zog aber den jungen Theologen nicht zur Kirche, sondern zu einem Spaziergang nach dem Muckberg.

Er sehnte sich nach stillem Verkehr mit der Natur zur Stärkung des Leibes und der Seele.

Ehe er das Haus verließ, rief er den kleinen Kunz herbei und gab ihm ein versiegeltes Brieflein ohne Adresse mit der Weisung: „Trage das da gen Mupperg ins Kastrum und übergib es dem Fräulein Susanna! Du kennst sie doch und weißt ihre Stube?“

Kunz jubelte auf: „Sehr wohl, Herr Kandidat!“ und eilte davon mit dem adresselosen Brieflein.

Bötzinger schlenderte in guter Hoffnung durch die Flur, kam an den Muckberg und betrat die feierlichen Hallen des Waldes.

Das Gezweig war von einem grünen Schimmer angehaucht; rote, weiße und blaue Anemonen, „Gückele“ und „Wickle“ kosten zwischen den Hecken und träumten von den großen Dingen des Frühlings, die da noch kommen würden. Zippen und Amseln, Heide- und Baumlerchen, Rotkehlchen, Finken und Goldammer waren entzückt, daß der alte Muckberg seine Winterschlafmütze, die ihn beim Abschied der befiederten Reisenden schon geziert, wieder abgelegt hatte und sich so geneigt zeigte, wieder mit zu tun: ihr Gesang schallte lichterloh durch die Waldhallen.

Martin schritt bedächtig und ergriffen durch diese Hallen. Es war doch wieder ganz anders als damals am Hausberg bei Jena. Kein Mißton lüderlicher Menschen fiel da herein.

Aus dem damaligen unerfahrnen, ängstlichen Pennal war nunmehr ein stattlicher Jüngling geworden, der schon einen Schatz absonderlicher Erfahrungen in der Brust trug neben einem Schatz, der sich durch ein wunderbares Leuchten und Brennen, das Herz und Kopf erfüllte, zur Geltung zu bringen wußte.

Und dieses Leuchten und Brennen des andern Schatzes zauberte dem Spaziergänger immer und immer das Bild des kleinen Kunz mit dem adresselosen Brieflein ins Gehirn als ein flackerndes Irrlichtlein.

Der kleine Kunz war im Kastrum zu Mupperg wirklich in die Rolle eines Irrlichtleins gefallen. An der Stelle, wo er vor Wochen seines Informators habhaft geworden war, stieß er auf die Freifrau von Schaumberg. Die fragte ihn aus über das Befinden seines Informators und endlich auch, aus welcher Ursache er gekommen sei.

Ich muß zu Fräulein Susanna.“

Was willst du von ihr?“

Nichts. Ich bringe dies Brieflein für sie.“

Sie ist zur Kirche.“

Dann will ich warten, bis sie kommt.“

Ist nicht nötig. Gib her den Brief! Ich will ihn besorgen.“

Das werd ich nicht tun. Die großen Leute vergessen die Briefe.“

Alberner Bube du! Wie kannst du mich so ärgern? Gib her den Brief und geh!“

Da ward der kluge Kunz verzagt und händigte das Brieflein der ungehaltnen Frau ein. Er blieb zwar strauchelnd und bedenklich noch einige Minuten auf der Treppe stehen, trollte sich dann aber doch davon.

Also doch! Dem muß ein Ende gemacht werden!“ Die gereizte Frau zog sich auf ihr Zimmer zurück und warf das Brieflein verächtlich auf den Tisch.

Wie konnte es so weit kommen in so kurzer Zeit – fast ohne Begegnung? Ist da wohl gar die schwarze Kunst im Spiel?“

Kopfschüttelnd, die Türen werfend, fegte das sich für betrogen haltende Weib durch das Haus und suchte Ableitung für ihre Erregung im Garten. „Ist dieser Bötzinger dennoch ein Spolierer? Ich werd es ihm eintränken! Er soll unsre Kanzel nicht wieder besteigen! Fort mit ihm!“

So zürnte die Edle. Sie hatte den schönen Kandidaten doch deutlich genug in ihrem Herzen lesen lassen. War er blind? Mit der Susanna freilich konnte sie sich nicht messen. „Die muß auch fort! Übles Volk!“

Mitten im Frühlinge zieht ein Schneewetter herauf. Martin! Martin! Mit dem Frühling deines Herzens ist es aus.

Susanne war aus der Kirche zurückgekehrt und griff nach langen stillen Tagen wieder einmal nach der vernachlässigten Laute. Die schüchternen Akkorde drangen wie bittende Boten leise in das Gemach der Edeln von Schaumberg. Aber bald verstummte das kaum angerührte Instrument wieder.

Die Spielerin ward zur Freifrau befohlen. „Das Brieflein dort hat der Kunz von Birkig für dich gebracht. Ich möchte doch auch den Inhalt wissen. Sieh zu, was es bedeutet!“

Mit zitternden Händen löste Susanna das Siegel. Wieder der jähe Wechsſel von Röte und Blässe in dem schönen Antlitz.

Da erhob sich die edle Frau hastig und entriß dem bebenden Mädchen, das wie ohnmächtig auf einen Stuhl sank, das verhängnisschwangere Brieflein.

Nach wenigen Sekunden schlug es wie eine eisige Triumphfanfare der kläglich Zusammengesunkenen ans Ohr: „Aah! – Schon von Jena her! – Einer solchen Buhlschaft meines allerliebsten Bäschens war ich allerdings nicht versehen.– Gehe!“

Susanna wankte hinaus und zu ihrer Mutter, der sie sich mit leidenschaftlichem Tränenausbruch an die Brust warf.

Es dauerte geraume Zeit, ehe die Mutter über das Schicksal ihrer Tochter hinlänglichen Aufschluß erhielt. Endlich eröffnete sie der Tochter einen Blick in die Satzungen und Vorurteile des Adels.

Der Adel liegt als ein Fluch auf uns und hat eine große Kluft aufgerichtet zwischen ihm und dir.

Einst haben Fürsten um die Gunst eines und des andern unsers Geschlechts geworben. Aber ich sehe klar, wie dieses Geſchlecht verarmt und in vielleicht nicht zu ferner Zukunft von der Erde verschwinden wird: dennoch wird der Stolz bis zum letzten Atemzug ungebrochen, und die klaffende Kluft zwischen Adlichen und Bürgerlichen unüberbrückbar bleiben. Wie sich Öl und Wasser nicht menget, also sind wir geschieden. Das ist der Fluch, der auch mir das Herz zermalmt hat.

Zwei Tage nach diesem gewitterschwülen, hagelreichen Frühlingssonntag reiste Susanna mit ihrer Mutter aus Mupperg ab.

Und wieder zwei Tage darnach ward vom gestrengen und edeln Herrn Dietrich von Birkig der Informator Martin Bötzinger entlassen.