Viertes Kapitel
Bischof Julius
(1616)
Immer noch stand Martin unter dem Banne der großen Fledermaus. Hatte er sich einmal empor gearbeitet, glaubte er einmal einen Faden aus lichter Höhe erfaßt zu haben, so war es oft die einfachste Begebenheit des alltäglichen Lebens in einer Unterrichtsstunde die Auktorität eines Magisters oder Doktors, die ihn hinab stürzte in das Netz des Zeitenwahns. Und immer von neuem raffte er sich wieder auf und arbeitete und studierte und suchte, ob ihm nicht irgendwo ein Stern aufgehen möchte. Aber immer und überall geriet er in Widerspruch mit dem „göttlichen Regiment“; es war ja zugeschnitten nach dem Gehirn seiner Zeit. Er stand nun im siebzehnten Jahr und litt mehr als je unter dem Albdruck des Aberglaubens den auch der Freiheitsdrang der Reformationszeit nicht abzuschütteln vermochte. In jener Zeit war die Spannkraft des deutschen Volksgeistes in Gewissensfreiheit, Mut und eine Art Frömmigkeitswut ausgeschlagen. Die Liebe war verkümmert: Strenge war der Odem jener Zeit, Roheit und Haß die Farbe der Tat.
Ist das in allen Zeiten so gewesen? Muß das so bleiben? Hat man in den vergangnen Jahrhunderten auch Menschen verbrannt? Haben die Griechen und Römer und unsre Altvordern auch an Hexen geglaubt? Diese Fragen erfüllten Martin mit Heißhunger nach Aufklärung: er studierte eingehend Geschichte mit einer Anstrengung, die seine Kräfte fast überstieg.
Ob der Herbst mit goldigen Tagen lockte, ob der Winter über den Stadtgraben für Eisläufer einen Spiegel gespannt, ob der Lenz den großen Naturhymnus aufspielen ließ: Martin durchkletterte auf seinem Stübchen die Jahrhunderte. Trug nicht der Herbst den Wurm in den Früchten? Glitzerten unter dem Sternenhimmel des kalten Winters nicht lauter Fragezeichen im Schnee? Brachte der Lenz nicht die garstigen Fledermäuse, wenn ihm die zerstörenden Reife ausgegangen waren?
Aber da kam der Sommer mit seinen Hundstagen und schloß das Gymnasium Casimirianum zu und trieb den Martin zum Tor hinaus nach Mupperg in die Ferien.
Martin lachte den Ferien ins Gesicht wie alle, die vom Casimirianum in ihre Heimat zogen, aber nicht, weil er, wie die andern, ein Stückchen Schlaraffenleben zu beginnen gedachte, sondern weil er den Hundstagen ein Schnippchen schlagen wollte. Er hatte seine Ranzen gespickt mit Historienbergen: das sollte ein lustiges Klettern werden in der Schule zu Mupperg im obern Stübchen, wenn die Bauern und auch Herr Joseph Bötzinger mit seiner Ehewirtin in der Ernte schwitzen würden.
„Martin, Martin!“, flüsterte der Gott der Ferien, „wenn nur aus der Bindlacher Kräuterschachtel auf dem blumenbemalten Kleiderschrank im obern Stübchen nicht die große Fledermaus aufsteigt!“
Acht Tage von den Ferien waren verstrichen. Der Gott der Ferien hatte Recht: mit dem Durchstreifen der Historienberge war es nichts gewesen bis jetzt und sollte es überhaupt nichts werden. Bald störte die große Fledermaus, die nicht allein aus der Bindlacher Kräuterschachtel aufstieg, sondern auch das einemal durch das Loch einer zerbrochnen Fensterscheibe des Schneiderhäuschens lugte, das andremal über der großen Esse des Kastrums schwebte; bald wiederum waren es die eignen Eltern, oder Verwandte und Bekannte, die, froh, ihren Martin einmal bei sich zu haben, ihn abzogen von seinen historischen Studien. Ja, diese Ferien zwangen ihm sogar den Wanderstab in die Hand zur Durchstreifung wirklicher, felsengegründeter, dunkelbewaldeter Berge und lebenstrotzender Gründe.
Es war eines Sonntags nachmittags; tags vorher hatte der Schulmeister von Mupperg seine Gerste „rappeldürr“ eingebracht; nun hatte er den Kirchendienst hinter sich; Martin hatte die Orgel heute mit großer Sicherheit geschlagen; der Mehlkloß war geraten gewesen; eine gute Hochzeit stand in Aussicht: Herr Joseph Bötzinger hatte so prächtige Laune, daß er seinen Martin nach Neustadt zum Bier führte.
Da kamen sie in die Gesellschaft zweier Geistlichen und des Hofrichters Christoph von Gieg zu Niederlind. Martin hörte dem Gespräch der Herren bescheidentlich zu. Als einer der Pfarrherren sich auch einmal an ihn wandte mit der Erkundigung nach diesem und jenem Herrn in Koburg, stand Martin präzis Rede. Man erkundigte sich nach seinen Schulinteressen und erkannte bald aus seinen Äußerungen seine Vorliebe für historische Studien. Man kam auf das Basler Konzil zu sprechen und auf den Reichstag zu Frankfurt, wo von Kaiser Friedrich III. Äneas Sylvius zum Dichter gekrönt worden ist. Bei Nennung dieses Namens sprang der Schulmeister von Mupperg in die Höh und rief: „Herr Gott in deinem Reich! Meine Herrn!“ – „Verzeih mirs Gott! – Wie man so was vergessen kann! Mein seliger Vater hat mir vor seinem Tod auf die Seele gebunden, er habe des Aeneae SyIvii Papae historisch Werk in alter Münchschrift gedruckt auf groß Regalpapier besessen und einstens dem Pfarrer Nikolaus Willius in Sonneberg geborgt; das solle ich doch wieder schaffen, wenns möglich wär, es sei ein rares, wertvolles Buch, das der Familie erhalten bleiben möchte. Ei, nun wär das ein Buch für meinen Martin da, und ich habs erst nicht ausfindig machen können, wo der Willius hingekommen ist, und hernach hab ich die Sache ganz außer acht gelassen.“
Martins Wangen glühten. „Des Aeneas SyIvii Papae historisch Werk in alter Münchschrift gedruckt auf groß Regalpapier! – Welch ein Schatz! – Meines Großvaters teuerstes Vermächtnis! – Ich werde nicht ruhen, bis ichs aufgefunden habe.“ Aus diesem Gedanken spann sich für Martins Leben ein neuer Faden.
Nach einer kleinen Pause bemerkte der Herr Hofrichter Christoph von Gieg: „Der ehemalige Pfarrer Nikolaus Willius soll vordem ein Münch gewesen sein“, und einer der Geistlichen nickte bestätigend: „Ja wohl, ein Dominikaner; ist aber wieder zur katholischen Kirche zurückgekehrt. Als er in Sonneberg katholische Pfaffen und verdächtige Weibsbilder geherberget, ist er removieret worden, worauf er nach Würzburg geflohen und vor dem Bischof Julius zu Kreuz gekrochen ist.“
Martin stand hastig auf und begab sich ins Freie; die Stube ward ihm zu eng. Er atmete tief auf in der schwülen Sommerluft. „Morgen nach Würzburg!“, schrien alle in seinem Kopf in Aufruhr geratnen Geister. Er schaute nach Süden und schlüpfte in Gedanken über die Linie hinweg, in der sich Himmel und Erde zu berühren scheinen.
Ein Stündchen später, auf dem Heimwege, teilte Martin dem Vater seinen Entschluß mit; aber Herr Joseph Bötzinger hatte seine großen Bedenken. Er glaubte, Martin sei zu so großer Reise noch zu jung, glaubte auch, es sei gefährlich, sich in religionsfeindliches Land so weit hinein zu wagen. Martin geriet so in Eifer, daß er herausplatzte: „Ihr glaubt auch an Hexen, und ich kann nicht daran glauben.“ Die Biergeister mochten sich in seinem Kopf mit den Geschichtsgeistern verbündet haben.
Wenn die Sambel nicht verbrannt gewesen wäre, so würde der erschrockne Schulmeister steif und fest geglaubt haben, daß das mit seinem „Jungen“ nicht richtig sei. „Wie?“, rief er, „das Ei will klüger sein als die Henne? Nun fehlt nicht viel, so bist du ein Gottesleugner! Denn wer den Vater meistert, wird auch bald seinen Herrgott meistern: dahin ist der Glaube! Was soll ich sagen? Was soll ich anfangen? Habe ich einen ungeratnen Sohn? Hat ihn das Studium dem Teufel zurecht gemacht?“
Dem Martin schwindelte. Er hatte doch nicht geglaubt, daß er ein Heiligtum seines Vaters antasten würde durch die Kundgebung seines Zweifels an der Hexenexistenz. Er bat seinen Vater, sich zu beruhigen und die seinen Zweifel begründende Entwicklung anzuhören: alles umsonst. Der aufgebrachte Vater kam erst dann einigermaßen wieder zu sich, als der Sohn um Verzeihung bat und auf das bestimmte Verlangen des Vaters versprach, hinfüro an Hexen zu glauben.
Damit der Sohn aber gründlich geheilt werde von seinen Studienallotria, besonders aber auch von dem Riß in seiner Elternachtung, hielt es der sorgsame Vater für geraten, ihm noch ein kräftiges Exempel zur Warnung vorzuführen.
„Des großen Gottesmannes Lutherus Freund war der Eisfelder Superintendent Dr. Justus Jonas. Dessen Sohn hieß auch Justus und hat in der Jugend große Hoffnungen von sich gemacht. Der ist von den vornehmsten Männern um seines Vaters willen hoch gehalten worden. Aber er dient allen Kindern zum merkwürdigen Beispiel, daß sie das vierte Gebot wohl in acht nehmen und ihre Eltern in Ehren halten sollen. War ein gar gelehrter, geschickter Mann und trefflicher Jurist, hielt aber seinen Vater sehr übel und sagte öfters zu ihm: Me regis filium esse oportuit, ich sollte nicht eines Theologi oder Pfaffen, sondern eines Königs Sohn sein.“
Herr Joseph Bötzinger blieb stehen und sah betrübt gen Himmel, dann schritt er wieder weiter und fuhr fort: „Er nahm aber ein erbärmliches Ende, mischte sich in die Grumbachischen Händel zu Gotha und gab eine Schmähschrift, der Postreuter genannt, heraus. Ob er sich wohl beizeiten aus dem Staub gemacht hatte und königlicher Rat in Dänemark worden war, so wurde er doch ausgekundschaftet, auf Kurfürstens Augusti zu Sachsen Denunziation und Ersuchen in der Stadt Sund zur gefänglichen Haft gebracht und 1567, den 28. Juni im zweiundvierzigsten Jahr seines Alters mit dem Schwert gerichtet.“
Martin schwieg tief ergriffen, desgleichen der Vater. Sie traten endlich in die Schule ein, und die geschäftige Margret tischte den Abendimbiß auf. Es wollte sich aber diesen Abend keine rechte Unterhaltung entwickeln. Margret schrieb die Ursache dem Biere zu und gab sich zufrieden. Man begab sich bald zu Bett. Martin hatte eine unruhige Nacht im obern Stübchen; denn die Zähne und Krallen der Fledermaus waren ausnehmend groß und scharf.
Am nächsten Dienstag, als der Hahn in der Schule zu Mupperg zum erstenmal krähte, trat Martin mit dem knotigen Schlehendornstock des Vaters, den Ranzen auf dem Rücken, über die Schwelle des Hauses. Der Vater blieb hinter ihr stehen, und über der Schwelle drückte seine Hand die des Sohnes zum Abschied. Die alte Schwelle trennte Vater und Sohn: aber sie hielten sich doch noch aneinander.
Herr Joseph trat stumm und ernst in die Stube zurück. Die Mutter begleitete ihren Martin auf einen Büchsenschuß weit über das Dorf hinaus. „Es ist nit so gefährlich, wie dein Vater denkt“, sagte sie; „bei den Katholiſchen giebts auch gute Leut. Da hast du noch einen Gülden. Kannsts mal habn, zu 'nem Geleitsreuter zu kommn, gieb ihm ein paar Groschen; es kommt ihm dann auf etliche Stunden, wenns grad durch den Wald geht, nit an. Kommst ins Katholische, laß nit merken, daß du ein Konfessioner bist! Wo du übernachtest, giebst du der Wirtin einen Groschen extra und bittst schön, daß sie dir gut Lager besorgt. Trink nit kalt, wenn du heiß bist, – iß erst 'nen Bissen Brot. – Frag lieber öfter einmal nach dem Weg: mit Fragen kömmt man durch die Welt. – Laß in den Wirtshäusern nix merken von deinem großen Geldbeutel: tust alleweil den kleinen heraus, und dadrin darf nit viel sein. Marschier des Abends nit zu spät; bald ins Quartier und früh auf! Sei fein höflich und freundlich gegen die Leut; kannst jemandem helfen, greif zu! – Ich möcht halt schon auch einmal so 'ne Reis mit machn. – Vergiß das Beten nit und bestreich alle Morgen und Abend deine Schläfen mit meiner Salben! – Nun bhüt dich Gott, Martin! Komm 'gsund wieder heim!“ Die Mutter kehrte um; Martin schritt rüstig weiter: Nach Würzburg! Nach Würzburg!
Schon in Koburg! Die Stadt kam ihm beinahe fremd vor, und der Marktbrunnen plätscherte: „Das ist nicht der Kustos Bötzinger, das ist ein gelehrter Reisender!“ Ja, als ginge ihn Koburg mit seinem Casimirianum gar nichts an, so sicher marschierte Martin durch, ohne einzukehren, ohne jemand anzureden. Da stieß ihn plötzlich einer in die Kniekehle. Martin fuhr herum: der alte Fleischerhund seines Hausherrn stand wedelnd vor ihm. Aber der junge Wandrer sagte: „Geh nach Haus, Echter!“ Diesen Namen hatte ihm sein Herr beigelegt mit Anspielung auf den mißliebigen Würzburger Bischof Julius Echter von Mespelbrunn. – „Geh nach Haus, Echter! Ich verreise.“ Echter ging.
Aber es hingen doch Bleisohlen an den Schuhen des Martin, als er dem Ketschentor zuschritt. Beim Eisenacher Leibknecht vor zwei Jahren mochte es freilich schneller gegangen sein. Martin war noch nicht durh das Tor, als ihm die Füße schon wieder leichter wurden, und er schlug mit seinem Knotenstock an das Blech, daß es krachte, und es kam ihm vor, als hätte er dem Rappen des Leibknechts alle Beine entzweigeschlagen. Aber der Torschreiber fuhr ans Fenster und rief: „Was giebts?“ – Es wurde Martin immer leichter, je weiter er sich von Koburg entfernte.
Wenn er ein Bäuerlein nach dem Wege nach Seßlach fragte, bekam er freundliche Zurechtweisung; sprang ihm ein Hase über den Weg, so kam es ihm vor, als fürchte sich das Tier gar nicht vor ihm; flog ein Schmetterling vor aeinen Füßen auf, den er meinte bald zertreten zu haben, so setzte er sich wenige Schritte vor ihm wieder auf eine Blume und ließ seine schönen Farben im Sonnenlicht spielen, als käme es ihm darauf an, den jungen Wandrer zu erfreuen; bald lachte ihn im Wald eine Kohlmeise an, bald ein Nußhäher, einmal trollte sogar ein junges Reh ganz sorglos vor ihm hin; trat er aus dem stillen, feierlichen Walde hinaus, so sah er in der Flur tausend fleißige Hände erntend sich regen; sah er auf zum Himmel, lachte ihm seine Bläue ins Herz, und die Sonne strahlte so kräftig, als hätte sie binnen drei Tagen alles Getreide, auch den Haber, fertig zu reifen: – Ist das nicht eine Herrlichkeit da draußen in der Welt! – Ja, da draußen in Wald und Flur ist die Heimat des Friedens. In den Dörfern und Städten wohnt Haß und Verfolgung. Unter Gottes freiem Himmel wohnt Unschuld und Wahrheit; unter den Dächern der Menschen brütet Lüge und Irrtum!
„Martin, Martin!“, sagte der Gott der Ferien, „du mußt noch viel lernen; aber diese Hundstage sind dir gesund!“
In Seßlach machte Martin Mittag und ruhte eine Stunde; dann nahm er seinen Weg durch den Wald über Altenstein, ein kleines Dorf auf der Höhe. Es war zu „halber Abendzeit“, als Martin in dem Dörfchen ankam, von Durst gequält. Ein altes Bäuerlein, an dem heute der „Wachtspieß“ war, stand unter der großen Dorflinde und beobachtete den daherkommenden Fremden. Dieser blieb vor dem Wächter stehen und fragte nach der Schenke. Das Dörfchen war wie ausgestorben an diesem herrlichen Erntetag.
„Es tut noch gut“, sagte der Alte, „da kommt der Wirt mit einer Fuhre Getreide; kommt, da ist das Wirtshaus!“ Martin setzte sich auf eine Bank unter dem Nußbaum vor der Schenke, und der Wirt, bei dessen Geschirr der Spießträger einstweilen blieb, holte für den Lechzenden den gewünschten Labetrunk. Martin ließ auch einen Schoppen für den Alten kommen, der sich dann in vertraulicher Weise zu ihm setzte.
„Wo kommt Ihr her, guter Freund? Ihr seid wohl noch nicht in unsre Gegend gekommen?“
„Nein!“
„Eibilei! So müßt Ihr einmal die paar Schritt mit herauf auf die Burg und Euch ein wenig umsehn!“
Martin folgte dem Alten.
„Grad vor uns der Felsen im Wald da drüben heißt der Liebenstein. Mit den Geschichten, die man von Altenstein hüben und dem Liebenstein drüben erzählt, will ich Euch nicht aufhalten; eibilei! Es würd Euch zu lang dauern. Wie weit wollt Ihr heut noch?“
„Bis Königsberg.“
„Eibilei! Da habt Ihr nichts übrig, wenn Ihrs noch erreichen wollt. Aber das muß ich Euch doch erzählen, daß vor zwei Jahren den ganzen Sommer über eine Räuberbande in den Wäldern daherum sich aufgehalten hat, eibilei! – Ihr Hauptmann war ein junger Kerl; er war beritten und ein Reuter, sag ich Euch, und einen Gaul hatte er, sag ich Euch, – der Hauptmann auf seinem Gaul – ich sags heut noch – war mein andrer als der Gottseibeiuns!“
„Ritt er einen Rappen?“
Der Alte bekreuzte sich und sah den Frager mißtrauisch an von Kopf bis zu Fuß. Bald aber stellte sich die Ordnung seiner Gesichtsfalten wieder her, und er fragte: „Ihr habt ihn wohl gekannt?“
„Ich hab von ihm gehört.“
„Eibilei!“, rief der Alte, „von dem Felsen drüben ist er heruntergesprengt, als Jagd auf die Räuber gemacht wurde. Der Rappe war hin, – eibilei! – die Raben haben ihn gefressen; aber der Gottseibeiuns war verschwunden.“
Martin stand da wie angewurzelt und starrte den Liebenstein an. Der Alte hatte sich schon etliche Schritte entfernt. Er rief zurück: „He da! Wenn Ihr heut noch nach Königsberg wollt, so trinkt aus!“
Wie im Traum folgte Martin dem Alten, trank aus, ließ sich den Weg genau beschreiben und verabschiedete sich. Er hatte kaum das Dorf hinter sich, so blieb er stehen und sah wieder nach dem Liebenstein hinüber. Er sah den Räuberhauptmann Hans auf seinem schnaubenden Rappen aus der Höhe hinabstürzen zwischen den Baumwipfeln. Ein Schauer überlief ihn: er schritt hastig vorwärts. Der Waldfrieden war gebrochen. – „Die Raben haben ihn gefressen! – Der Gottseibeiuns war verschwunden!“
„O weh!“, rief Martin, „Wehe, wehe über dieses Geschlecht! Die gute, unschuldige Mutter haben sie gemordet; und den Sohn treibt sein furchtbares Geschick dem Galgen zu! Sie glauben alle an Hexen; wenn sie erfahren, daß der Schneidershans unter die Räuber gegangen ist, oder wenn ihnen erzählt wird, der Schneidershans sei geköpft worden, so paßt ihnen das in ihre Sündenlehre und in ihren Glauben an die Fluchsaat, und sie loben die Gerechtigkeit Gottes. Wo soll ich einen Ausweg finden? Die unschuldige, gute Mutter verbrannt! Und in dem unglücklichen Sohn glüht heute noch die Liebe zu ihr. Ihr gotteslästerlicher Glaube an die Hexen hat die Seele des Hans verderbt – wenn sie verderbt ist!“
Martin grübelte und zürnte weiter. Nicht hundert Schritte von ihm stieß ein Habicht auf eine Lerche und trug sie, mit Grazie dahin schwebend, dem Liebenstein zu für seine hungrige Brut. Nun war die Heimat des Friedens, die sich Martin in den Wald geträumt hatte, vollständig zerstört. Er stieß mit seinem Knotenstock so unwillig auf, daß in dem Grund die Schnitterinnen auf den Wandrer aufmerksam wurden, mit ihren Sicheln zusammenschlugen und riefen: „Hübscher Bursch! Wohinaus? Kommt herunter und helft uns!“ Martin errötete, ob vor Zorn oder vor Scham, hätte er selbst schwerlich sagen können. Müdigkeit und Unmut rangen mit einander, und er trat in einen aufwärts führenden Hohlweg ein. Es kam ihm vor, als würden ihm die Flechsen in der Gegend, wo ihn am Morgen in Koburg der alte Echter hingestoßen hatte, etwas zu kurz: sein Schritt wurde bedächtiger. Da hörte er in der Hohlgasse vor sich ein jämmerliches Fluchen und Prügeln. Er merkte, daß der Peitschenstecken eines wütenden Bauern seine zu schwer belasteten Zugochsen gerbte. Nun hatte der Bauer den Frieden auch aus der Flur hinausgeprügelt.
Martin arbeitete sich hinauf auf den Rand und schaute aus nach Hilfe. Er winkte zwei Schnitter aus der Nähe heran und wies in den Hohlweg. Sie machten zwar keine freundlichen Gesichter, folgten aber, da sie einmal hergelaufen waren, dem Beispiel Martins und griffen in die Speichen. Bald war der kleine „Stieg“ überwunden, und das Fuhrwerk gelangte ohne weitere Beschwer auf die Ebne, wo der Bauer Halt machte und seine Ochsen streichelte und ihnen zwischen den Hörnern kraute.
Martin wollte vorüber; aber der Bauer ließ seine Peitſche fallen und faßte ihn am Arm: „Guter Freund! Nehmt mirs nicht übel! Aber Ihr seid ein wackerer Student; das seh ich Euch an. Ihr habt mir so brav beigestanden: vergelts Euch Gott! Ich kann Euch sagen, daß ich Respekt vor Euch hab, wenn Ihr auch noch nit alt seid. Wo wollt Ihr noch hin heut? Nach Königsberg habt Ihr noch eine gute Stunde; Ihr kommt heut schon weit her, sehs Euch an. Es wird wohl dunkel werden, ehe Ihr Königsberg erreicht. Ich hab auch nen Bubn auf der lateinischen Schul; er streift alleweil in den Hundstagen auch umher und ist beim Vetter in Schweinfurt etliche Tag auf Besuch. Bleibt heut bei uns und tut, als wärt Ihr unser Bub; Ihr sollt gut gebettet sein.“
Das hatte Martin von dem Flurfriedensbrecher nicht erwartet. Das wohlwollende Bauerngesicht, aus dem ihm ein paar blaue Augen treuherzig anblickten, ließ ihn die Ochsenprügelei vergessen: er nahm das Anerbieten an und wurde froh, denn das Gutgebettetwerden hatte ihm die Stunde Wegs nach Königsberg auf einmal wie Blei in die Glieder gesenkt.
Zu Hause angekommen rief der Bauer seiner Hausfrau zu: „Alte, ich bring einen vornehmen Gast mit für heute Nacht; führ ihn in die Stube und trag ihm auf!“ Martin wurde von der Bäuerin mit viel Zutulichkeit bewirtet. Die neugierigen Wirtsleute waren bald über die Familienverhältnisse ihres Gastes und das Ziel und den Zweck seiner Reise unterrichtet und erzählten ihm viel von ihrem lateinischen Buben; dann gönnten sie dem Müden Ruhe.
Der träumte in selbiger Nacht, er wäre auf dem Weg nach Basel, um auf einem Konzil mit Äneas Sylvius zu disputieren über Hexen, Waldfrieden, Räuberwesen und göttliches Regiment, er träumte von einem grauen Zwerg, der mit einem Wachtspieß bewaffnet, auf einer großen Fledermaus durch die Luft ritt, und wie der Vogel Greif kam und auf die Fledermaus stieß mit stählernem Schnabel, daß sie in die Hölle stürzte samt dem Graumännchen; junge, rotwangige Mädchen kamen ihm entgegen gezogen, mit Ährenkränzen geschmückt, und tanzten ihm im Wege herum, daß er nicht wußte, wohinaus und hinan; aber hinter ihm her kam der vagabondierende Mönch Willius, packte ihn im Genick und prügelte ihn mit einem spanischen Rohr, daß er stöhnte. Mit einem Schrei sprang Martin aus dem Bett und fuchtelte mit den Fäusten auf einen Kleiderschrank los: da wurde er munter.
Die Erntesonne hatte ihr Tagwerk schon begonnen und lachte den jungen Bötzinger an, als ob gar nichts passiert sei. Bald kam es dem sich Ankleidenden ebenso vor.
Bei der Morgensuppe redete die Hausfrau ihrem Gast zu, auf der Heimreise wieder bei ihnen einzukehren; bis dahin sei ihr lateinischer Bub wahrscheinlich zu Haus und könne ihn dann ein Stück begleiten. Martin gab keine bestimmte Zusage, schüttelte seinen Wirtsleuten dankend die Hände und schritt rüstig in den Sommertag hinein.
Ohne sonderliche Begegnisse kam er über Königsberg nach Haßfurt, fuhr über den Main und wanderte an dem westlichen Abhang des Steigerwaldes auf Geroldshofen zu. Im Wald stieß er auf einen Geleitsreuter, der ihn anhielt und auszuforschen begann. Martin schnitt aber das Examen ab mit der Darreichung etlicher Groschen, an die er die Bitte um Begleitung durch den Wald knüpfte. Der Geleitsreuter war schmunzelnd zu Diensten und gab seinem Schützling zu verstehen, daß er jetzt einen guten Einfall gehabt habe, indem es in dem Walde nicht richtig sei; den Sommer her seien von einer Bande abgefeimter Spitzbuben schon allerhand Streiche ausgeführt worden, und das Merkwürdige sei, daß die Kompagnie, alte Kerle darunter, einem etwa zwanzigjährigen Burschen, der sich Marschall nennen lasse, blindlings gehorche – ein Holzmacher habe sie einmal belauscht; ein Mord sei zwar noch nicht vorgekommen, aber im Mausen und Wildern seien sie Malefizkerle.
Da der Geleitsreuter sich selbst gern reden hörte, so fiel ihm das einsilbige Wesen Martins nicht auf. Sie hatten den Wald hinter sich, und der Geleitsreuter zeigte nach dem Volkachgrund und sagte: „Da unten liegt Geroldshofen; wollt Ihr noch was weiter, so bringt Ihrs wohl auch noch bis Volkach drunten am Main. Ihr findet da und dort gut Herberg. Glückliche Reis!“ Dann ritt er wieder nach dem Wald zurück.
Martin blieb stehen, atmete tief auf, sah nach den Bergen und fuhr sich dann mit der Hand über den Augen hin, als habe er da was wegzuwischen gehabt. Mit hastigen Schritten eilte er nach Geroldshofen. Da stieß er auf dem Markt auf einen großen Haufen Menschen.
Er hörte rufen: „Ketzer ab! Den Garaus den Hunden! Die ketzerischen Bücher sind Teufelswerk, – schürt! – Schürt! Verbrennt den Gestank! Stroh her! Reisig her!“ – In wenig Minuten schlug eine Flamme empor.
Martin war zu Mute, als müsse er wieder in den Wald zurück und sich da verkriechen. „Kommst ins Katholische, laß net merken, daß du ein Konfessioner bist!“ Diese Worte seiner Mutter klangen ihm plötzlich im Ohr, und er trat mutvoll zwischen den Haufen. Da sah er viel Bücher aufgespeichert, und der Henker in rotem Mantel schürte das Feuer. Als den Roten die Glut groß genug deuchte, rief er: „Im Namen des heiligen Vaters und zur Ehre Gottes und unsrer lieben Frauen und aller Heiligen!“ Dann begann er mit etlichen Peinlein die aufgespeicherten Bücher, das Jesuiten- und Papistengift, die Speise der ins Licht des Evangeliums Getretnen, in die verzehrende Glut zu schleudern. Dazu schlug ein Mann mit buschigen Augenbrauen und ausdruckslosen Zügen lächelnd die Trommel, und Buben und Weiber schrien: „Heilige Mutter Gottes, bitt für uns arme Sünder! Juchhe! Wie brennts den Ketzern auf die Finger ! Den Garaus den Ketzern! Vivat der Bischof!“
Martin war bald klar, um was es sich hier handelte, und schlich sich davon, froh, daß ihn der fanatische Haufen nicht beim Kragen gepackt hatte. Er marschierte auf Volkach los. Nun brauste es ihm wieder im Kopf. „In den Dörfern und Städten wohnt Haß und Verfolgung; aber in Wald und Flur ist der Frieden auch gebrochen! Wo soll ich mich hinflüchten? Wo finde ich, was mir frommt?“ Er dachte nicht mehr an die freundlichen Schnitterinnen, an Bauer und Bäuerin, die ihn gepflegt und so gütig behandelt hatten – Blumen, Schmetterling, Sonne, treuherziger Tagwächter, alles war vergessen, was ihm ins Herz geleuchtet hatte, nichts blieb übrig als das historische Studium, des Äneä Sylvii historisch Werk in alter Münchschrift auf groß Regalpapier gedruckt.
Die Dämmerung brach an, als Martin im Gasthof zu Volkach den Ranzen auf die Bank warf und sich an die Tafel setzte.
Er hatte sein Abendbrot verzehrt; kein Gast war mehr im Zimmer, und er stand im Begriff, seinen Schoppen zu leeren und das Nachtlager zu suchen. Da setzte sich der Wirt zu ihm, ein kleiner Mann, dessen scharf ausgeprägte Gesichtszüge und lebhaftes Auge auf Martin Eindruck machten. Die Neugierde des Wirtes war bald befriedigt, und als Martin sein Erlebnis in Geroldshofen erzählte, fand der Wirt heraus, daß sein junger Gast ein Evangelischer sei. Diese Entdeckung machte ihm den jungen Gast interessant und schloß ihm das Herz auf.
„Ihr seid in gute Hände gekommen“, sagte wohlwollend der Wirt; „ich habe des Spektakels viel erlebt und wäre längst über alle Berge, wenn meine Tochter nicht hier an einen Papistischen verheiratet wäre. Da laß ichs halt nun gehen, wie es gehen will, laß die Mönche und Jesuiten gewähren und denk meinen Teil. Der Trommler in Geroldshofen ist ein Halunke, der schwarze Seyfried – ist aus Schweinfurt Ehebruchs wegen vertrieben worden, darauf ins feindliche Lager übergetreten und nun ein diensteifriger Knecht der Jesuiten. Der Bischof Julius hat ehedem arg gewütet; jetzt ist es nicht mehr so schlimm. Er ist auch ein Halunke! In seinen jüngern Jahren hat ers arg getrieben. Ein welscher Goldmacher war sein Helfershelfer. Als aber das Maß voll war, und als er sich von dem saubern Kuppler, der sich bei Nacht und Nebel aus dem Staub gemacht hatte, betrogen sah, wollte er kalvinistisch werden. Aber es muß ihm von Rom her ein Floh ins Ohr gesetzt worden sein, und da ward er plötzlich der Mann, dem die Jesuiten durchs Feuer gehen.“
Martin entgegnete: „Vielleicht tut Ihr dem Bischof unrecht mit Eurer Rede. Die Jesuiten werden wohl die Hämmer sein, und der Bischof der Amboß.“
„Nüber wie rüber! Meinetwegen. Was ich gehört hab, hab ich gehört. Es war einmal um Mitternacht rum, und ich saß dort hinten in der Hel und tat, als ob ich schlief, und da, wo wir jetzt sitzen, saßen zwei Pfaffen, die sich in jener Nacht meinen Wein hatten schmecken lassen: da hättet Ihr hören sollen, was ich selmal in meiner Hel gehört habe! Ja, mein Wein hat die gute Kraft, das Herz aufzuschließen und alle alten Schubfächer des Gedächtnisses, daß es nachher so schön von der Zunge träuft, wie er darüber hineingeflossen ist. Ich darfs Euch aber nit erzähln, was ich selmal gehört hab; Ihr seid noch zu jung dazu. Aber da kriegt man Respekt vor einem Bischof. – Trinkt noch einen Schoppen, guter Freund! Mein Wein ist billig und erquickt Eure müden Glieder.“
Martin trank aus und nickte dem Wirt zu. Der Wirt setzte das Kännchen gefüllt vor, und
Martin fragte: „Habt Ihr einmal von Pater Willius gehört, oder kennt Ihr ihn etwan gar?“
„Gott straf mich! Das ist der schönste Bruder. Den hab ich schon lange auf meinem längsten Kerbholz. Der hat ein Lebn hinter sich wie ein Strichvogel. Vor mehr als fünfundzwanzig Jahren hat er wegen Umgangs mit fahrenden Weibern das Weite suchen müssen, ist evangelisch worden, war Pfarrer in Einberg und in Lindenau“ –
„Und in Sonneberg“, fügte Martin ein.
„Kann sein; aber die Evangelischen habn den saubern Bruder davongejagt. Nachher ist er wieder ins alte Nest zurückgekehrt. Von dem könnt ich noch mehr erzählen als vom Bischof; denn wenn ich in meiner Hel saß und tat, als ob ich schlief, und die Pfaffen waren allein und schwitzten von meinem Wein: da wars allemal umgekehrt, wie sonst; ich saß im Beichtstuhl, und die Pfaffen beichteten; und ihre Beichte war immer gar lustig.“
„Ihr scheint der neuen Lehre nicht abhold zu sein?“
Der Wirt räusperte sich, bog sich etwas nach Martin hinüber und sagte: „Ihr seid kein Jesuit und sein Pfaff, na! Ihr mögt nicht ganz unrecht habn. Meine braven Eltern warn von den Pfaffen respektiert und sind ihrem Glauben treu geblieben. So lang sie lebten, konnt ichs ihnen nit antun und lutherisch werden; aber die Pfaffen trauten mir nit und hatten mich immer scharf auf dem Korn. Meiner Mutter mußte ich auf dem Totenbett so und soviel Messen versprechen – der Vater war ihr in die Ewigkeit vorausgegangen –, und meine Christine war noch nit lang gefirmelt worden: da stand ich nun zwischen Mutter und Tochter und mochte nit weh tun. Aber da drin, inwendig, weiß ich, wem ich angehör. Ja, der Bischof Julius hat arg gewüt't. Zu Unter-Eisenheim wurden etliche aus ihren Weinbergen und Gütern vertrieben, und hier in Volkach, in Detelbach und Geroldshofen wurde den Konfessionern verboten, eignen Rauch zu haben; man wollte nicht einmal gestatten, daß sie katholische Untertanen in ihre Häuser bestandsweis setzen möchten. Denen Arnsteinern wurde auferlegt, sie sollten auf Weihnachten zum Nachtmahl gehn oder in drei Tagen insgesamt die Stadt räumen. – Er kam selbst nach Haßfurt und setzte ernstlich an die Evangelischen, in den Schoß der Alleinseligmachenden zurückzukehren. – Zu Trimberg lag er über Nacht, forderte und examinierete der Religion halben die umliegenden Dorfschaften, worauf der mehrere Teil von der neuen Religion wieder abfielen. – Des Bischofs geistliche Räte kamen nach Karlstadt (des Bilderstürmers Geburtsort) und forderten ein Viertel nach dem andern in die Kellerei; die Bürger gaben aber insgemein und ein jeder besonders zur Antwort, sie hätten ihrem gnädigen Herrn gelobt und geschworen, mit Leib, Blut und Gut zu dienen, bei Tag und Nacht erkenneten sie sich als arme Untertanen schuldig, so lang ihr Leib und Gut währet: allein was in geistlichen Sachen die Seele antrifft, da könnten sie solches nicht über ihr Gewissen bringen, daß sie von dem Bekenntnis der wahren christlichen Religion abfallen sollten. Was sie einmal bekannt hätten, das bekenneten sie noch, gedächten auch dabei zu verharren, es ginge ihnen gleich darüber, wie der liebe Gott wolle. Darauf wurde ihnen auferlegt, etlichen in vierzehn Tagen, etlichen in vier Wochen, ihre Hab und Güter zu verkaufen und aus Stadt und Stift zu ziehen. Ihrer zweihundert machten ein Bittgesuch; dann wurden wieder vier mit einer Supplik an den Bischof geschickt: alles vergeblich. Als sie darnach wieder vorgefordert und examinieret wurden, blieben ihrer dreihundertunddreißig beständig. Zehn Tage darauf kam Dr. Schweicker von Würzburg und fragte, wessen sie sich in der Zeit bedacht hätten? Und vier Wochen darnach kam er wieder und gebot ihnen, sie sollten von Stund an die Stadt, Land und Stift räumen bei zwanzig Taler Strafe. Doch verzog sichs und die Bürger blieben alle beständig. Sie machten wieder ein Schreiben und übergaben es zu Würzburg dem Bischof im neuen Spital; der beredete sich zwei Stunden lang mit ihnen ganz freundlich, gab ihnen gute Worte und vermeinte, sie sollten sich noch ergeben. Als sie sich weigerten, gab er ihnen den Bescheid, in drei oder vier Wochen aus der Stadt zu weichen und ließ sie also hinziehen. Da zogen denn auf Jakobi und darnach bei achtzig aus der Stadt gen Lautenbach, Remblingen, Heidenfeld, Wertheim und andre umliegende Flecken. Viele, die ihren Herbst erst einsammeln wollten, wurden nicht gehört. Erst auf die besondre Verwendung des Markgrafen Georg Friedrich zu Anspach wurde ihnen ihr Herbst vergönnt. – Und so ists denen nach der Rhön zu auch ergangen.“ – Der Wirt holte sich einen Trunk.
Martin wünschte sich, jetzt mit seinen Kurrendanern und Fürsten und Rittern, wie vor zwei Jahren auf der Ehrenburg, „Ein feste Burg“ singen zu können. Die Standhaftigkeit der vom Bischof bedrängten und vertriebnen Glaubensgenossen hatte ihm das Feuer der Begeisterung in der Brust entzündet.
Dieses Feuer glühte noch fort, als er am folgenden Morgen wohlgemut an den Weinbergen vorüberwanderte. Zum erstenmal erfüllte ihn der Gedanke an den von ihm erwählten Beruf mit Begeisterung. „Welch herrlich Wirken!“, rief er aus, „vor dem frischen Quell des lautern Evangelii sitzen und den Dürstenden spenden! Welch herrlich Werk, Wahrheit predigen, Haß und Unfrieden dämpfen und Liebe säen! Ja, Liebe, Liebe! Weg mit Haß, der die Menschen in Gerechte und Verdammte scheidet! Weg mit der Verblendung, die hilflose Weiber verbrennt und rüstige Geister ins Verderben treibt!“
Da trat ihm das Bücherfeuer mit dem roten Henker und dem schwarzen Trommler vor die Seele, der Bischof Julius mit seinen Jesuiten, die Gewalt der katholischen Kirche mit ihrem mächtigen Haupt in Rom: und beinahe hätte Martin gerufen: „Krieg ihnen! Kampf auf Leben und Tod!“
„Martin, Martin! Du mußt noch viel lernen!“, sagte der Gott der Ferien; „aber diese Reise ist dir gesund!“
„Liebe, Liebe!“, hatte das Herz des jungen Bötzinger geschrien. Und doch hatte der Knotenstock an jedem Stein, der dem Kustos von Koburg im Wege lag, seine Festigkeit zu beweisen: der protestantische Zorn loderte. „Weg mit dem Haß!“, hatte der beschwingte Geist gepredigt: und doch war der Boden für die Saat des Hasses schon gelockert.
Die Türme von Würzburg kamen in Sicht. „Wenn du jetzt der Martinus Lutherus wärest, und das wäre Rom!“
In der Kapuzinergasse begegnete Martin einem alten Fleischerhund, der dem des Meisters Örtlein in Koburg so ähnlich war, daß er mit dem Daumen schnappte und unwillkürlich rief: „Echter!“
Da zupfte ihn ein altes Mütterchen am Ärmel und sagte: „Meine Augen sind blöd, aber, Gott sei Dank! Ich hör noch gut; was meint Ihr mit dem Echter?“
Martin wurde über und über rot und hustete.
„Wenn Ihr unsre Bischöfliche Gnaden meint: er ist alleweil vorm neuen Spital abgestiegen.“ Die Alte kümmerte sich nicht weiter um den verblüfften Burschen.
Später fragte dieser einen Mönch nach dem Dominikanerkloster. „Ich gehe dahin“, sagte der Mönch, „wollt Ihr mit? Es giebt noch Platz.“ Martin schloß sich dem Dominikaner an und fragte, ob er wohl den Prior sprechen könne. „Das weiß ich nicht; kommt nur mit! Trinkt einstweilen einen Schoppen, ich will fragen und Euch Bescheid sagen.“
Das Tor war hinter ihnen zugefallen, und Martin setzte sich auf einen Wink des Mönchs in der kühlen Torfahrt an einen für die Ewigkeit gezimmerten eichenen Tisch und tat sich hernach gütlich an dem Klostertrank, der ihm vorgesetzt wurde.
Der Mönch kam wieder, winkte Martin, ihm zu folgen, führte ihn die breite Steintreppe empor, einen nicht enden wollenden Korridor entlang und öffnete eine stark mit Eisen beschlagne Tür zum Eintritt; dann entfernte er sich wieder. Martin, dessen protestantisches Feuer bereits erloschen war, stand hinter der zugefallnen schweren Tür dem langen Prior mit pergamentartigem Gesicht, worin unter kleinen Augen zwischen stechenden Backenknochen die feine Nase wie ein Spion hervorragte, gegenüber wie ein Bube, der sich beim Direktor zum Examen meldet.
„Ich möchte den Pater Willius sprechen“, sagte er verlegen.
„Bruder Willius ist nicht zu sprechen. Was willst du von ihm?“
„Ein Buch, das er einst von meinem Großvater geliehen hat.“
„Du bist Protestant, nicht wahr? Wie ist dein Name? Wo bist du her?“
Nach der Antwort Martins zogen sich die beiden Achseln des Priors fast bis an die Ohren in die Höhe, und er entließ den Fremdling mit der Weisung, am folgenden Vormittag wieder zu kommen.
Andern tags stellte sich Martin früh neun Uhr beim Prior wieder ein. Dieser tat einen Riß an einem Klingelzug und bedeutete den jungen Protestanten, Seine Durchlaucht, der Bischoſ, Herzog von Franken, wolle ihn sprechen, er werde sogleich zu ihm geführt werden. Dann ging der Prior schweigend auf und ab, und wenn er an Martin vorüberschritt, warf er einen musternden Blick auf ihn.
Nach wenig Minuten trat derselbe Klosterbruder, der den waghalsigen Schüler tags vorher zurecht gewiesen hatte, ein und nahm vom Prior die Weisung entgegen, den jungen Menschen zu Seiner Durchlaucht zu führen.
Unterwegs warf der Klosterbruder wie von ungefähr hin: „Andern Novizen steht nicht gleich die Burg offen. Ist Er vielleicht von Mespelbrunn?“ Dabei glitt verstohlen ein sarkastisches Mäuslein vom Mundwinkel her neben der fetten Nase hinauf und schlüpfte hinter das etwas lappige Ohr.
„Ich bin nicht von Mespelbrunn und auch kein Novize. Ich bin ein protestantischer Schüler aus Koburg.“
„Da wird ihm wohl die bischöfliche Gnaden den protestantischen Dickkopf ein wenig salben.“ Wieder lief das sarkastische Mäuslein um die dicke Nase herum.
„Es wird ja wohl nicht so schlimm werden.“
„Der Herr Bischof müßte den grünen Ketzerlein grüner sein als den hartgesottnen.“ Auf der Mönchsstirn bildeten sich vorübergehend ein paar Furchen, in denen das heimliche Mäuslein verschwand.
Nun wurde dem fahrenden Schüler die Geschichte doch beinahe unheimlich. Kleinmütig stieg er dem Mönch nach, den Schloßberg hinauf.
Auf der Schneckentreppe in der Burg beschlich ihn eine Beklemmung, daß er am liebsten wieder umgekehrt wäre. Was würden seine Eltern, oder sein Herr Professor in Koburg, oder der Magister sagen, wenn sie ihn jetzt sähen auf seinem Gang zum Bischof Julius Echter von Mespelbrunn, ihn, den unerfahrnen Knaben, auf dem Wege zum Feind in der geheimnisvollen Burg auf dem Frauenberge?
Ein kalter Schauer überlief ihn. Der Weg zum geheimen Gemach des Fürsten kam dem Geängstigten vor wie eine kleine Reise. Aber es war doch keine Reise durch den Steigerwald – vor der großen Fledermaus war er hier sicher.
Das Selbstbewußtsein erwachte wieder, und aus diesem begann sogar ein wenig protestantischer Trotz aufzusteigen.
„Hier!“, sagte der Mönch, öffnete eine Tür und meldete: „Da ist der Ketzer.“ Dann trat er zur Seite und setzte sich an einen Tisch im Korridor.
Der Bischof aber rief: „Nur herein, Bursche!“
Da trat Martin herzhaft ein. Die Sammet- und Seidenpolster, die goldbrokatnen Vorhänge und zwei große Hunde, die sich von einem Bärenfell in der Ecke des Gemachs erhoben und das Mupperger Schulmeisterssöhnlein beschnupperten, trieben den kaum erwachten protestantischen Trotz mit einem guten Stück Selbstbewußtsein hinunter in die Stiefelschäfte.
Auf einen Wink des Bischofs ließ sich Martin auf ein schwellendes Polster nieder. Der Fürst setzte sich ihm gegenüber – ein ziemlich alter, aber noch rüstiger Mann – und hub an: „Du kommst aus dem Lande, wo meine Abgefallnen Zuflucht finden, und willst ein Werkzeug werden in der Kirchenzerstörung? Du bist uns ins Garn gelaufen, und wir könnten dich verschwinden lassen, wenn wir nicht hofften, daß ohnedies die lutherische Rotte bald vom Arm des Herrn vernichtet werde wie Pharao mit seinen Heiden im Roten Meer.
Bei diesen harten Worten war Martin emporgefahren; seine Wangen glühten, und er entgegnete: „Die lutherische Rotte und die katholische Kirche stehen unter einer Fahne: Jesus Christus, gestern und heute und derselbe in Ewigkeit! – Nicht der Papst: der flucht! Christus: der segnet! – Aber Durchlauchtigster Herr! Ich bin nicht gekommen, mit Euer Gnaden zu disputieren: ich bin ein Knabe! Ich suche den Pater Willius.“
Der Bischof sah den tapfern Knaben verwundert an und durchmaß mit gesenktem Haupt etlichemal das Gemach. Dann blieb er vor Martin stehen und sagte: „Du scheinſt doch Lust zum Disputieren zu haben; das laß ich mir gefallen. Was willst du vom Pater Willius?“
„Vor sechzehn Jahren hat ihm mein Großvater ein seltnes Buch geliehen, des Änes Sylvii historisch Werk in Münchschrift auf groß Regalpapier gedruckt, das will ich von ihm haben.“
„Du bist ein wunderlicher Kauz! Aber du gefällst mir.“ Der Bischof öffnete die Tür und rief dem Dominikaner im Korridor zu: „Bring sogleich den Bruder Willius herauf.“
Der Fürst setzte sich wieder Martin gegenüber und redete wie im Selbstgespräch vor sich hin: „Diese Evangelischen sind die Werkzeuge des Satanas. Die Güter der Kirche haben sie sich angeeignet, die Kirchen in Ställe, Kornhäuser und dergleichen verwandelt, und wollen angesehen sein als solche, so die Kirche reformieren und von ihren Irrtümern purgieren und entsetzen. Ist aber ganz vergeblich, sich mit vernünftigen Gründen und Beweistumben mit ihnen einzulassen. Sie unterstehen sich, den Kaiserlichen Hofrat und gemeine Reichstage oder Reichsversammlungen umzustoßen und zu depravieren. Sie leugnen gar, daß der Kaiserlichen Majestät die Jurisdiktion und der Zwang über die Stände und deren Untertanen gebühre, weil Ihre Majestät dieselbe plenaria ganz und, wie die Juristen zu reden pflegen, privative auf die Kaiserliche Kammer außer den causis fractaepacis, so Ihre Majestät sich allein vorbehalten, verwendet. – Wie ist mit denen Städten Aachen und Biberach gespielet worden! Haben sie zuvor das Kaiserliche Kammergericht höchlich impugnieret, so unterstehen sie sich anjetzo, die Kaiserliche Majestät ganz zurück zu setzen und alle Sachen mit großer Listigkeit dahin zu ziehen.
Die Konföderierten beschuldigen die Katholischen, als ob sie den Religionsfrieden, so sie ihresteils niemals gehalten, nicht in genugsame Aussicht nehmen; desgleichen verwerfen sie der Päpstlichen Heiligkeit Gewalt und Recht. Ebenmäßig verwerfen sie die geistliche Jurisdiktion, beklagen sich auch heftig, ob sollen ihren Glaubensgenossen christliche Begräbnussen gewehret werden, da doch die Rechte ein solches zulassen und sie selbst die Weihe ganz verwerfen. – Aber je gelinder Ihro Kaiserliche Majestät mit ihnen gefahren, je halsstarriger und heftiger sie werden. So sind die Katholischen dem Mutwillen der Konföderierten unterworfen. – Aber das Strafgericht wird bald der Ketzer gottlose Auflehnung züchtigen.“
Der Bischof schwieg und sah auf seine gefaltnen Hände nieder, als ob seine sich schnell umeinander drehenden Daumen zwei Riesenwellen wären, zwischen denen die Ketzer zerquetscht werden sollten.
In Martin regte sich wieder ein Lüstchen zum Disputieren, und er warf schüchtern hin: „Aber Durchlaucht, die Anbeter im Geist und in der Wahrheit sind nach dem Herzen Jesu: die wird der Herr nicht verderben.“
Der Bischof sah den Knaben eine Zeit lang stumm an; dann fiel er aus dem Kanzleiton in den Kanzelton und donnerte: „Er wird sie verderben! – Sie werden einander selbst verderben; die Lutheraner verfolgen schon die Kalvinisten. Hat nicht im vorigen Jahr der Eisenacher Herzog Johann Ernst einen Haufen Reformierter hinausgetrieben? Den Bürgermeister Schilling, den Senior Seidler, den Stadtschreiber Purgold und viele andre? – Und was nicht im Roten Meer des Kriegs umkommen wird, das wird wider einander sein wie Hund und Katze. Denn wenn jedes Pfäfflein einen Papst spielen will, und jeder Grünschnabel eine neue Lehre predigen, und jeder die Suppe mit anderm Salz salzen will, so wird das eine babylonische Verwirrung, in der das arme Volk untergehen wird wie Fische des Meeres, wenn sie in den brennenden Sand der Wüste geschleudert würden.“
Wieder sah der Bischof nach seinen Daumen, die sich schneller drehten als vorhin.
Martin wagte entgegen zu halten: „Durchlauchtigster Herr! Die Evangelischen sind nicht ohne Haupt: Christus ist unser Haupt! Und die freie Forschung in der Bibel und die Gewissensfreiheit und die Mannichfaltigkeit im Reich der Geister wird Wunder wirken, die die Menschheit in hundert Jahren zur wahrhaften Gemeine der Heiligen erheben werden. Die katholische Kirche hält ihre Glieder in Ketten geschmiedet.“
„Die protestantischen Grünschnäbel werden immer frecher!“, rief der Bischof erregt, „will sich da so ein Holzbock einbohren mit seiner Afterweisheit! Ich sage dir aber, eure freie Forschung und eure evangelischen Gewissen, die wie die Heuhüpfer ohne Ziel auseinander fahren, eure Mannichfaltigkeit im Reich der Geister – hahaha! – euer ganzer Dunst ist Drachenodem für das arme Volk! – Das Volk will sein Haupt sehen und hören; es will sich anklammern und will getragen sein; es will gestraft sein für seine Sünden und will sich loskaufen von seinen Sünden; es will der Einzelne im Volk sich wissen als ein untrennbares Glied eines Ganzen, eines gewaltigen, Himmel und Erde umfassenden Ganzen, das sich dreht um Eine Achse, sich gipfelt in dem Einen Kopfe – in Rom! Und dieser Eine Kopf hat tausend und abertausend Zungen und tausend und abertausend segnende Hände für sein Volk. Die Diener der katholischen Kirche haben nicht zu denken, sondern nur zu dienen, auszuführen die Gedanken des Einzigen Kopfes; sie sind die sicht- und hörbare Gliederkette des großen Prinzips. Und jeder Einzelne ist unter diesem Prinzip gebunden und wird von ihm getragen zur Seligkeit; und es giebt nur Eine Seligkeit, aber nicht so viel Seligkeiten wie Dummköpfe. Es giebt nur Eine seligmachende Kirche: die katholische Kirche ist die allein seligmachende. Jedes Glied, das aus diesem Zusammenhang herausgerissen wird, ist tot, weil nicht mehr der Strom des großen Prinzips durchfähret. Darum sind die Evangelischen ein in lauter Klötzer zerrissener Haufen, den die Verwesung trifft, wie das Wetter einen Schutthaufen.“
Die Tür tat sich auf, und Pater Willius trat ein – eine etwas gebückte Gestalt mit roter Nase und üppigen Lippen. Sein unsteter Blick streifte Martin, als er sich vor dem Bischof auf die Knie warf und ihm hündisch den Saum seines Rockes küßte.
„Wie viel Tage dauert deine Haft noch, alter Sünder? Erhebe dich!“, redete in strengem Ton der Bischof den Pater an. Aber der Mönch erhob sich nicht und antwortete: „Noch dreizehn Tage. – Erbarmen, Bischöfliche Gnaden! Ich bin eine unglückliche Kreatur, daß mir die Freiheit genommen ist; ich vertrockne in meinem Elend als in einer brennenden Wüste!“
„Nachher davon! Erhebe dich jetzt und stehe Rede! Dieser Bursche da aus dem koburgischen Ketzerland behauptet, du hättest vor vielen Jahren von seinem Großvater des Aeneae Sylvii Papae historisch Werk in alter Münchschrift auf groß Regalpapier gedruckt entliehen; das will er haben.“
„Ah, des alten Bötzingers in Mupperg Enkel! Sieh da, ein schmucker Bursche! Ja, das Buch hab ich von ihm; aber ich hab es nit mehr!“
„Das ist mir einleuchtend; des Studierens wegen möchtest du auch das Buch nicht in Mupperg geholt haben. Wohin hast du es gebracht?“
„Ich hatte vom Pfarrer Sebastian Lütz“ –
„Sebastian Lütz?“, fiel der Bischof ein, „den haben sie mir einstmalen ins Stift setzen wollen nach Gochsheim; aber ich hab mirs nicht gefallen lassen. Jesus, Maria! Die lutherische Rotte hat mir schon viel zu schaffen gemacht! Erzähle weiter!“
„Ich hatte vom Pfarrer Sebastian Lütz in Ebersdorf zwanzig Gulden geborgt; und da ich ihm das Geld nit wieder bezahlen konnte, drohte er mit Klage. Weil ich aber nit zum besten angeschrieben war bei den Ketzern, fürchtete ich die Klage und trug meinem Gläubiger den Äneas Sylvius hin. Lütz hat mich hernach nit mehr gemahnt. Das Buch war ihm vielleicht lieber als die zwanzig Gulden. Bald darauf habe ich mich hinter den Mantel Euer Bischöflichen Gnaden geflüchtet und das Buch vergessen.“
„Wann wird endlich dein Sündenregister auslaufen? O, du verlorner Sohn!“
„Ich schwör Euer Bischöflichen Gnaden, daß nichts wieder vorkommen soll. Habt Erbarmen, Durchlaucht, und macht meiner Haft ein Ende! Laßt Gnade vor Recht ergehen! Nur noch einmal!“
„Du sollst frei sein. Aber sündige hinfort nicht mehr!“
In dem verschmitzten Gesicht des Mönchs hätte die helle Freude beinahe den Schleier der Frömmigkeit zerrissen. Pater Willius zog ab.
Der Bischof öffnete ein Ebenholzkästchen auf einem Ecktischchen, nahm Geld heraus, zählte dem überraschten jungen Protestanten fünfundzwanzig Gulden auf den Tisch und sagte dabei: „Hier! Ob du auch ein Feind mit zweischneidigem Schwert werden wirst, soll dir hier nichts Arges widerfahren. Da sind zwanzig Gulden, daß du deines Großvaters Buch einlösen kannst, und noch einige Zinsen. Die katholische Kirche steht für ihre Glieder ein. Aber mache nun, daß du aus meinem Bistum kommst!“
Der vor der Tür noch harrende Klosterbruder geleitete den beschämten Jüngling hinunter in die Stadt. Vor dem Dom verabschiedete er sich mit stummem Kopfnicken.