Martin Bötzinger. Ein Lebens- und Zeitbild aus dem 17. Jahrhundert

 

Fünftes Kapitel

Die Heimkehr

 

Martin Bötzinger stand vor dem Dom wie ein verwünschtes Fragezeichen. Und die fünfundzwanzig Gulden zogen in seiner Tasche, als wollten sie ihn auf der Stelle zehn Klafter tief in den Erdboden hinabdrücken, und er kam sich vor wie eine Achse, um die die Mupperger Schule, das Schneidershäuschen und das Kastrum, der Scheiterhaufen, die Hexe Sambel im Heiligenschein mit goldnen Flügeln, das Casimirianum, die Ehrenburg samt den Kurrendanern, Fürsten und Rittern, die Stahlhütten, Pritschmeister, Sauerteig und Essig samt schwarzem Peter, blutendem Mägdlein und großer Fledermaus auf schnaubendem Rappen, Bücherfeuer, Henker, Trommler, Fleischerhund und altes Weib, Mönch, Prior, Pater Willius und Bischof Julius Echter tanzten. Der Tanz wurde immer rasender, und die rotierenden Gewalten bohrten die Achse immer tiefer in den Boden. Da auf einmal fiel das alte Weib aus der Tanzordnung heraus und zupfte Martin am Ärmel.

Martin erschrak so, daß die Fäden, durch die die rotierenden Gewalten an die Asche gebunden waren, zerrissen, und der ganze Plunder nach allen Richtungen der Windrose ins Blaue hineinschoß.

Wenn Ihr zum Bischof Julius Echter wollt, der wohnt nit dadrin. Seine Residenz ist auf dem Frauenberg die Feste.“ Das alte Weib ging von dannen.

Martin fuhr sich mit der Hand über die Stirn. In diesem Augenblick schwebte der Gott der Ferien über ihm hin und sagte: „Martin, Martin! Du mußt noch viel lernen; und die Würzburger Lektion war dir gesund!“

Martin hielt sich diesen Tag noch in Würzburg auf. Er wollte sich das Sehenswürdigste doch nicht entgehen lassen und bat seinen Wirt um Bedeutung. Der machte ihn auf den Dom und andre Kirchen aufmerksam, auch auf die Neumünsterkirche aus dem zwölften Jahrhundert mit dem Grabstein Walthers von der Vogelweide im Kreuzgang, auf welchem Stein sich eine Schale befand zum täglichen Futterstreuen für die Vögel, wozu dieser Dichter eine Stiftung gemacht hatte. Martin horchte hoch auf. Seinen historischen Studien hatte er zu verdanken, daß ihm der Dichter nicht ganz unbekannt war; in dem verwichnen Frühling war ihm das Liedchen: „Auf diesem Klee hat sie gesessen“ wie ein weckender Tautropfen in das Herz gefallen.

Sodann machte ihn sein Wirt auf die große Mainbrücke, an der einunddreißig Jahre gebaut worden, und auf das Juliusspital sowie auf die Julius-Maximilians-Universität aufmerksam, welche drei großartigen Bauten die Stadt dem Bischof Julius zu verdanken habe.

Müde kehrte Martin am Abend von seinen Besichtigungen in sein Wirtshaus zurück, und seine Gedanken hingen an dem Bischof Julius als an einem unbeschreiblich großen Mann. An den Halunken des Volkacher Wirtes glaubte er nun nicht mehr. Am folgenden Tage reiste er zeitig ab, aber nicht über Volkach: der Steigerwald mit seinenMalefizspitzbuben“ war ihm zu gefährlich. Er blieb auf der rechten Seite des Mains und übernachtete in Schweinfurt.

Am Morgen holte er über Schweinfurt draußen einen Wandrer ein, der ungefähr seines Alters sein mochte.

Wo reisest du hin?“, fragte Martin.

Nach Ibind.“

Ei, da hab ich vor etlichen Tagen übernachtet. Und meine freundlichen Wirtsleute haben mir gesagt, sie hätten auch so einen Bubn auf der lateinischen Schul; bist dus vielleicht?“

Das werd ich wohl sein.“

Er wär zu Besuch bei einem Vetter in Schweinfurt; und weil du aus Schweinfurt kommst, so mag das wohl stimmen.“ Nun erzählte Martin, wie es gekommen war, daß er Gast in Ibind gewesen war. Seine Erzählung von Würzburg interessierte den Reisegefährten ungemein.

Der Gott der Ferien spann und webte zwischen den beiden hochklopfenden jungen Herzen hinüber und herüber eifrig und geheimnisvoll und sagte: „Jörg Eisentraut und du, mein Martin Bötzinger, ihr sollt ein paar Freunde werden; ihr müßt noch viel lernen und leiden, und selbander geht das leichter.“

Die heimliche Arbeit des Feriengottes ward von Jörg und Martin wärmstens verspürt. Sie zog Martin an der Seite Jörgs zur Einkehr beim Bauer Eisentraut in Ibind. Da war nun eine große Freude darüber, daß die lateinischen Bubn bei Schweinfurt einander gefunden hatten. „Daß die Gstudierten feine Nasen habn, das merkt man doch an den Bubn da schon“, sagte der Bauer. Und die Frau Eisentrautin fügte hinzu: „Ihr müßt ein paar Tag bei uns bleibn, Bötzinger, daß ich a weng mei Freud hab!“ Und so wurde es.

In den paar Tagen durchstreifte Martin an der Seite seines Freundes die Umgegend von Königsberg. Als sie am ersten Tage das Königsberger Schloß besuchten, stieß zu ihnen der Amtschreiber Jonas Pürzel; er kannte Jörg Eisentraut und sagte: „So den Herrlein an der Aussicht gelegen sein möchte, besteigen wir den Heidenturm. Er mag der Anfang zu diesem Schloß gewesen und soll nach der gemeinen Erzählung 94 Jahr nach Christi Geburt erbauet worden sein. Seine Mauer ist zehn Werkschuh dick, inwendig in diametro neun Schuh und außen in der Cirkumferenz etwa achtundzwanzig Schuh.“ Martin Bötzinger staunte den in der Mitte des Schloßhofs stehenden Heidenturm an und rief: „Herr Amtschreiber, wenn Ihr die Gewogenheit haben wolltet, uns auf dieses Spekulum zu führen, würdet Ihr uns einen großen Dienst erweisen. Mein Freund Eisentraut wird mir beistimmen.“

Ei jawohl, Herr Pürtzel! Erweiset uns die Liebe!“ Und nun wurde der Heidenturm erstiegen. Oben angelangt in der leerstehenden Wohnung des einstigen „Hausmanns“ erklärte der Amtschreiber: „Dahierhin sieht man ein Stück vom Saalgau; das ist der Strich von Königshofen bis Gemünden, wo die Saale in den Main fällt. Über dem Main drüben von Volkach bis Bamberg habt ihr das Volkfeld, und vom Haßberg da bis Haßfurt ist der Haßgau, so man von hier aus ganz übersehen kann. Durch den Baunachgrund über dem Berg da drüben seid ihr ja wohl beide schon gekommen.“

Ich hab einmal vom Ritterkanton Baunach gehört“, bemerkte Martin; „mag der Herr Amtschreiber uns darüber einigen Aufschluß geben?“

Herr Pürtzel tat es wohl, mit dieser Materie vertraut zu sein, und er sagte: „Die Ritterschaft von Frankonien ist schon lange unter sich in Verbindung getreten, um die Bande der Untertanenverhältnisse gegen ihren Territorialheren aufzulösen und sich unter den unmittelbaren Schutz des Reichsoberhaupts zu stellen. Eine bestimmte Anzahl sogenannter Reichsritter bildet eine Körperschaft, die Kanton genannt wird. Auch die koburgische Ritterschaft führte im Schilde, sich von ihrem Landesherrn unabhängig zu machen, und dazu wurde sie insonderheit aufgereizet durch den Ritterkanton Baunach. Aber der Herzog Johann Kasimir ist solchem sträflichen Gelüste ernstlich entgegengetreten und hat seinen Rittern untersagt, die Rittertage zu besuchen oder in die Rittertruhe zu steuern, sintemalen der Reichsmatrikularanschlag eine Verminderung erleiden würde. Einer der Schlimmsten war Johann Truchseß zu Schweickershausen, der seine Dreistigkeit soweit getrieben, die fürstlichen Mandate herunterzureißen.“

Martin bemerkte: „Die im Land umhersitzenden Ritter und ihre zerstörten Burgen passen gar nicht mehr zusammen.“

Der Herr Pürtzel lachte und fuhr fort: „Wenn auch nur Brennesseln, Geherkertsbeeren und Rotzagel in den Burgen wohnen, ich hab meine Freud an ihnen. Es sind meine Lustschlösser. Ja, und Frankonien hat prächtige Burgen. Von allen liegt Schloß Bramberg drüben im Bramberger Wald am höchsten. Der gemeine Mann steht im Wahne, dieses Schloß wäre im Bauernkriege zerstöret worden; ist aber nicht also, sondern ist selbiges Schloß schon 1168 auf Befehl des Kaisers Friderici I. zerstöret worden. Derselbe Kaiser räumte 1172 den 22. April dem Stift Würzburg eine Wildbahn ein, deren Grenzen sind der Zeilberg bei Marolzweißach, das Wasser Rodach, da es in die Itz fällt bei Seßlach, fürder am Main, da der Ebelsbach in den Main fällt, von da an den Bramberger Forst bis zum Sonderstein, und von dannen an den Habelsberger Forst. Fürwahr! Eine konsiderable Wildbahn!“

Da wirds wohl auch nicht an Wilderern gefehlt haben?“

I, die Fürsten haben einander selber bewildert, daß es derohalben immer Streit gegeben hat, und heute noch! Diese alten Bergschlösser, Königsberg, gegen Mittag Kastrum Zilanum, und die alte Burg bei Bamberg, worauf der unglückliche Graf Adelbertus von Babenberg, der Anno 907 enthauptet ward und in die familiam Comitum Hennebergensium unstreitig gehöret, residieret hat, auf der andern Seite gegen Mitternacht Rotenstein, dann Wildberg am Haßberg, weiter Lichtenberg bei Ostheim an der Rhön und das Stammhaus der Grafen von Henneberg, was nicht weit davon liegt, machen fast in einer geraden Linie einen Strich aus mitten durch unser Frankenland und haben durch ihre Spekula (Wachtürme) und Feuerzeichen mit einander korrespondieret.

Und das mitten inneliegende Königsberg war überaus bequem, einen Sitz für die Grafen von Henneberg, die in den alten Zeiten die mächtigsten in dieser Gegend waren, abzugeben und die Kommunikation zwischen ihren zerstreuten Landen zu unterhalten. Daher mag es gekommen sein, daß sie so viele Kosten angewendet haben, eine Stadt unter dem Berge des Schlosses, und wie der Augenschein zeiget, fast contra naturam zu bauen und anzulegen. Bei Betrachtung des großen Turmes auf Schloß Lichtenberg erblickt man eine ganz ungeheure Masse von gehauenen Sandsteinen, wovon Millionen Zentner hinaufgetürmet sind; gleich wohlan ist in der ganzen Gegend und im weiten Umkreise kein Sandsteinbruch zu finden. Diese sonderbare Erscheinung mag ohne Zweifel zu der possierlichen Sage Gelegenheit gegeben haben, daß die Steine zu diesem großen Turm von Fulda nach Lichtenberg geschafft worden und bei deren Transport in einem Zuge der letzte Wagen zu dem Fuldaischen Tore herausgefahren sei, als der erste schon zu Lichtenberg angelanget war.“

Der Herr Amtschreiber bekam einen Hustenanfall und erklärte, daß es für ihn nun Zeit sei, ein Frühstück einzunehmen; so ein Magen wolle seine Ordnung haben, sein Husten komme aus dem Magen, er kenne das.

Die jungen Freunde folgten dem Herrn Pürtzel, teilten das ihnen von der Frau Eisentrautin eingepackte Frühstück mit ihm im Königsberger Ratskeller und verabschiedeten sich dann.

Als die paar Tage, an denen das Eisentrautache Ehepaar „a weng seine Freud“ hatte, ausgenossen waren, meinte der Bauer: „Jörg, du mußt auch noch den Vetter Wehner in Heldburg besuchen, ich habs ihm versprochen.“ Der gehorsame Sohn freute sich höchlich darauf und rief: „Martin, du mußt mir, ein kleiner Umweg in den Hundstagen kann neue Spekula fürs Leben aufschließen.“

Dem Martin waren auf seinem großen Umwege zum historischen Werke des Äneäs Sylvii von Mupperg bei Koburg über Würzburg nach Ebersdorf bei Koburg allerdings soviel neue Spekula fürs Leben aufgegangen, daß sich der Ausspruch seines lieben Jörg wie ein Siegel an seine Reise heftete. Mit jubelndem Beifall drückte er seinem philosophischen Freunde die Hand. „Also nach Heldburg!“

Da fällt mir ein“, rief der alte Eisentraut, „in Schweinshaupten der Pfarrer heißt auch Bötzinger, ob der wohl gar mit Euch“ –

Martin fiel ihm in die Rede: „In Schweinshaupten ist mein Vetter Johannes Pfarrer, meines Vaters Bruder. Wo liegt Schweinshaupten?“

Jörg tanzte mutwillig in der Stube herum und wollte sich ausschütten vor Lachen. „Das wird eine herrliche Vetterstraße! Auf deinem Umweg über Heldburg kommen wir bei noch einem kleinen Umweg auch über Schweinshaupten.“

Was ich auf dieser Reise finde, ist fast teurer und werter als das historische Werk des Äneä Sylvii!“, rief Bötzinger. „Also über Schweinshaupten und Heldburg nach Ebersdorf!“

Das Eisentrautsche Ehepaar freute sich über die Entdeckung fast ebenso sehr als die philosophischen Freunde. Der Abschied ward nun um so herzlicher.

Im Pfarrhause zu Schweinshaupten war eine unbeschreibliche Freude, als sich Martin als Neffe vorstellte. „Ernst und würdig, wie der Großvater zu Bindlach! Der Ernst des Lebens wird dich nicht aus der Fassung bringen. Du machst mir Freude über die Maßen, mein liebwerter Neffe. Du mußt nun mit deinem Freunde eine Woche bei uns bleiben.“

Martin bedauerte sehr, diesen Wunsch seines Vetters nicht erfüllen zu können, da es bereits die zweite Woche sei, an der seine Reiſe zehre, und seine Eltern sicher nur auf eine Woche gerechnet hätten, derohalben gewißlich in großer Sorge um ihn seien; am Sonnabend wolle und müsse er nun endlich zu Hause eintreffen.

Gegen Abend des folgenden Tages standen Martin und Jörg vor dem Wernerstor von Heldburg und betrachteten einen zierlich auf einen Stein gehauenen Biber.

Ich halte das Biberbild für ein Steinmetzzeichen, wodurch der Baumeister dieser Stadtmauer auf seine oder seiner Bauhütte Kunst hat hinweisen wollen.“

Dann hätt der Baumeister wohl jedwedes andre Tier erwählen können, so dieses Tor paaaieret; soll doch der Biber im Wasser wohnen.“

Aber der Biber gerade soll im Bauen geschickt sein, wie kein andres Tier.“

Ja, nun versteh ich den Sinn des Zeichens. Daß ich doch nicht selbst darauf gekommen bin. Hab einmal in einem Buche von Olaus Magnus, so ich vom Magister Zacharias Scheffer hatte, gelesen, daß der Biber mit wunderbarer Kunst, bloß von der Natur unterrichtet, sich seine Häuſer verfertiget, die aus zwei bis drei Kammern übereinander bestünden.“

Hab auch gehört, der Bibergeil sei ein probates Mittel gegen Pest, Fieber und alle erdenklichen Krankheiten.“

Auch Haut, Fett, Blut und Haare des Bibers sind untrügliche Heilmittel, schreibt Olaus Magnus. So hat der Steinmetz den Biber über dem Tore wohl eingehauen als ein Segenszeichen für die Stadt, daß da weichen sollen vor dem Biber am Tor all Seuchen, Pestilenz und Gift und nicht einziehen in die Stadt.“

Auch daß die Kinder hinter sothaner Mauer leichtlich zahnen!“

Während sich die Freunde über die Bedeutung des Bibers so in Vermutungen ergingen, wurden sie von einem flachshaarigen, blauäugigen Mädchen von etwa zwölf Jahren beobachtet, das im Tor stand. Besonders Martin wurde von dem Mädchen mit solchem Fleiß, ja solcher Andacht betrachtet, als wollte sein Blick den Burschen, wie er leibte und lebte, aufsaugen. Die jungen Philosophen schritten endlich fürbaß durch das Tor: das blauäugige Mädchen wollte davon eilen. Aber Jörg rief es an und fragte, ob es ihnen sagen könne, wo der Bürgermeister Tobias Wehner wohne. Das errötende Kind nickt und schritt gemessen vorauf, zeigte nach des Bürgermeisters Haustür und lief dann davon, als brenne es hinter ihr. Der „seltsame“ Besuch wurde von Herrn Tobias Wehner mit großer Freude aufgenommen.

Nachdem die Abendmahlzeit eingenommen war, führte er die jungen Herren aufs „fürstliche Haus“ zum Trunk. Am Stadtgraben bei der Stadtmühle blieb der Herr Bürgermeister stehen, zeigte in den Graben und erzählte der Jugend zur Warnung: „Hier ist vor fünf Monaten der Ratsherr Friedrich Schwalb nächtlicherweile, als er vom fürstlichen Hause, allwo er beim Trunk gewesen, von dannen hat heimgehen wollen, in den Graben gefallen und elendiglich ersoffen; am Morgen des 8. Februar hat ihn der Stadtmüller tot gefunden.“

Beim Abendtrunk erzählte Herr Tobias Wehner von den Verfolgungen, die vom Bischof Julius Echter gegen die Bekenner der neuen Kirche verübt worden waren, und daß er in Neustadt an der Saal geboren und wegen der „Religionsreformation nach Heldburg salvieren müssen.“

Der Organist Nikolaus Fleischmann kam dazu und brachte zu demselben Thema seine Variationen; denn er hatte aus Königshofen im November 1585 auch „echappieren“ müssen. Der Goldschmied Wolfgang Wustemann, ein aus Seßlach Vertriebner, setzte sich an den Tisch und warf auch das Gold seiner Erfahrung in den brodelnden protestantischen Tiegel.

Die daraus aufsteigenden Scheidewasserdämpfe fuhren aber dem lauschenden Martin Bötzinger dermaßen in die Nase, daß er sich bereits wieder als Achse zu fühlen begann. Sollte er sich den großen Mann, den er in Würzburg geholt hatte, wieder verhunzen lassen? – Bischof Julius Echter wurde geschmäht als ein zweiter Nero; auch die Nichtemigranten, die sich nach und nach zugesellten, gaben den stärksten Senf dazu, den sie hatten. Der von Münnerstadt vertriebne Petrus Wehner aber warf dazwischen: „Als er seinen Vetter Valtin Echter zum Freiherrn gemacht hatte, ward an sein Schloß zu Unterhörieth der Reim angeschlagen:

 

Valtin Echter führe Mist,

Weil dein Bruder noch Bischof ist.“

 

Martins Wangen brannten; aber nicht mehr das Feuer protestantischer Parteilichkeit loderte in ihm: sein Gerechtigkeitsgefühl schlug in hellen Flammen empor, und er rief mit bebender Stimme: „Ehrenfeste, achtbare Männer! Ihr seid wohl tapfere Bekenner der Augsburgischen Konfession und treue Anhänger unsers Lutheri, aber den Bischof Julius sollt ihr nicht schmähen; er ist ein großer Mann!“

Da schlug der Goldschmied mit der Faust auf den Tisch und rief: „Was, der Bub ist noch nicht hinter den Ohren trocken und will uns sagen, was Rechtens? Er ist wohl ein Jesuiterlehrling aus Würzburg?“

Martin fuhr fort: „Ich bin ein Protestant so gut wie ihr; aber ich komm allerdings von Würzburg und hab mit dem Bischof Julius, Herzogen von Franken, disputieret! Er ist ein großer Mann; und die Katholischen waren eher als die Lutherischen. Wohl war die Verfolgung ein Unrecht; aber es ist auch ein Unrecht, wenn die Neugläubigen auf die Päpstlichen schelten! Ihr Herr ist Christus, und unser Herr ist Christus! Wir sollten Brüder sein gegen einander und nicht wie Teufel gegen Teufel!“

Die feierliche Stille, die auf die Worte Martins folgte, wurde unterbrochen durch einen Mann, der unbemerkt von Bötzinger, weil dieser der Tür den Rücken zukehrte, eingetreten war und in Zurückhaltung die Worte Martins angehört hatte. Alle blickten den tapfern, fieberhaft erregten Jüngling staunend an ob seiner Disputation mit dem Bischof Julius. Der Herr an der Tür trat heran, legte seine Hand dem Martin Bötzinger auf die Schulter und fragte: „Wer seid Ihr, der Ihr vom Bischof Julius kommt?“

Bötzinger fuhr empor; er erblaßte, als er diese Stimme hörte. Und in dem Augenblick erhob sich die ganze Gesellschaft und grüßte ehrfurchtsvoll: „Schönen guten Abend, Herr Superintendent!“

Bötzinger hatte nicht nötig, die Frage des Herrn Superintendenten zu beantworten; dieser drückte ihm die Hand, indem er sagte: „Ah, du bist es, mein lieber Bötzinger! Du bist ja ein ganz tapfrer Streiter vor dem Herrn. Es ist recht brav von dir, daß du in den Schülerschuhen schon solchen Mut beweisest. Aber was ist denn das für eine Geschichte mit dem Bischof Julius? Du bist bei ihm gewesen, wie du gesagt hast?“

Der Herr Superintendent Sebaldus Krug setzte sich neben Bötzinger und erwartete die Erzählung seines ehemaligen Schülers: er war acht Jahre lang Professor Theologiae et Alumnorum Inspector auf dem Gymnasio zu Koburg gewesen und erst im Jahr vorher zum Superintendenten nach Heldburg berufen worden.

Die Gesellschaft hörte mit Spannung auf die Erzählung des erregten Martin; der Herr Superintendent lächelte vergnügt dazu, und des Herrn Tobias Wehners Faust, die sich mit der Wucht eines halben Zentners auf den Tisch stemmte, bog sich bei jedem Kraftwort seines Besuchs um, als hätte sie eine alte Nuß zu zerdrücken; Jörg Eisentraut blickte mit furchtbar ernster Miene von einem Gesicht zum andern und sagte innerlich: „Verstanden?So stehts! Der da ist mein Freund!“

Seitdem der Ratsherr Friedrich Schwalb auf dem Heimweg aus dem fürstlichen Haus ertrunken war, hielt man es im Punkt des Aufbruchs etwas gewissenhafter. Zuerst verabschiedete sich der Herr Superintendent und bat sich für den nächsten Morgen den Besuch Bötzingers aus. Der Bürgermeister Tobias Wehner kam mit seinem Besuch glücklich am Stadtgraben vorbei: seine Fluten blieben ruhig. Und die Stunde, wo der ersoffne Ratsherr Friedrich Schwalb umging, war noch nicht gekommen.

Martin träumte in dieser Nacht, er habe durch eine große Predigt, die er auf dem Berg der Wüste gehalten habe, die ganze Welt versöhnt und schwebe auf dem Mantel des Elias durch die Wolken. Aber derselbe Traum verwandelte den Prophetenmantel in die Kuhhaut vom Stahlbogenschießen im Jahr 1614, und der arme Martin wurde in selbiger Nacht von den Pritschmeistern noch „geschupfet,“ daß ihm die Rippen im Leibe krachten.

Das flachshaarige Mädchen, hinter der es gebrannt hatte, unsre blauäugige Königin vom Gänserasen, war nach ihrer interessanten Begegnung am Wernerstor nach Hause geeilt, ihrem Vater zu verkünden, daß ihr Retter da sei. Aber der Vater war noch nicht von Römhild zurück, wo er beim Ratsherrn Valtin Hübner zu Gevatter zu stehen hatte, und die Mutter versicherte, daß er wohl spät kommen werde. Ursel mußte zu Bett gehen. Aber sie konnte nicht schlafen. Das fremde Herrlein, das sie vor zwei Jahren vom Tod errettet hatte, stand immer vor ihren Augen in ihrem obern Stübchen; und ob dieses Stübchen auch dunkel war: sie sah den edeln Fremden im hellen Sonnenschein. Endlich fing sie an zu singen unter ihrer Bettdecke:

 

Altweibersommer flieg,

Flieg an den Baum, flieg an den Hut.

Mein Schatz, der ist im Krieg,

Ich spinn und bleib ihm gut.

 

Und sang:

In Burg Botenlauben

Da fliegen keine Tauben.

 

Und sang:

Wieberle, Wile,

Seid mir nur stille!

Werdet ihr größer,

Holt euch der Schösser.

Wieberles-Wolle

Zupft uns Frau Holle!

 

Aber dazwischen sang sie immer wieder:

Altweibersommer flieg,

Flieg an den Baum, flieg an den Hut.

Mein Schatz, der ist im Krieg,

Ich spinn und bleib ihm gut.

 

Endlich kam doch der Schlaf und erbarmte sich des Mägdleins. Bei den Worten: „Mein Schatz“ stand das rote Mündchen still. Und als der Schlaf die blauen Augen zugedrückt hatte und der sonnenscheinige Fremde verschwunden war, kam der tückische Traum geschlichen und ließ der guten Ursel die Nase bluten und jagte den wilden Reiter durch das Stübchen und stellte den wassertriefenden Schulmeister von Mupperg vor das Bett.

Am andern Morgen ging Martin zur Superintendentur, um den versprochnen Besuch zu machen. Da ereignete es sich, daß Ursel wieder das sonnenscheinige Herrlein beobachtete.

Martin holte auf den Wunsch des Superintendenten seinen Freund Jörg herbei, und der geistliche Herr führte die Philosophen in Schülerschuhen auf die Burg. Da gabs wieder viel zu lernen. Der Schösser Nikolaus Leipold ließ es sich nicht nehmen, die Herren auf das artigste zu verpflegen. Jörg schickte den Eiern und dem roten Schinken vom reichgedeckten Tisch einen Schluck edeln „Leiſteners“ nach und bemerkte – der Herr Superintendent war eben einmal abgetreten –: „Hier wäre des Herrn Amtschreibers Jonas Pürtzel von Königsberg Husten wohl angebracht.“ Die beiden Freunde lachten, daß die Burg davon wiederhallte; und als der Herr Superintendent, der das Lachen gehört hatte, wiederkam und nach der Ursache fragte, erzählte Jörg die Hustengeschichte, und die geistliche Hochwürden und der Amtschösser Leipold lachten herzlich mit.

Währenddessen war Michael Böhm, der Ursel Vater, in der Superintendentur gewesen und hatte nach dem fremden jungen Herrn gefragt. Es war ihm unangenehm, zu hören, daß die Herren auf die Festung gegangen seien und erst nachmittags wieder zurückkehren würden. Denn nachmittags hatte er im Tosbach Weizen aufzubinden und gegen den Abend im Ludergrund Grummet mit zu mähen. Durch die Römhilder Kindtaufe war er mit seiner Ernte etwas ins Hintertreffen gekommen.

Am folgenden Vormittag ging der Ratsherr Böhm zum Bürgermeister Tobias Wehner, Erkundigung einzuziehen; aber die beiden Vögel waren ausgeflogen – jeder seiner Heimat zu. Darob niedergeschlagen, wollte er wieder von dannen gehen. Da fragte der Herr Bürgermeister, wes wichtigen Anliegens er die Herrlein suche. Der Ratsherr aber sagte: „Ich habe einem von beiden was zu danken und weiß nicht welchem; derowegen hätt ich beide sehen und sprechen mögen. Es ist eine alte Geschichte. Adjes!“ – Das kam dem Bürgermeister doch rätselhaft vor, und er sagte kopfschüttelnd: „Der Michel ist ein närrischer Kerl!“, und ging an den Lerchenberg zu seinen Schnitterinnen.

Martin Bötzinger schritt dem kleinen Wäldchen zu, durch das die Straße nach Koburg führte. Da sagte der Gott der Ferien: „Martin, Martin! Langsam! Die große Fledermaus!“

Unter der alten Eiche am Kreuzweg hielt ein Karren mit einem alten Gaul bespannt. Als Martin vorübergehend der Insassin einen frischen „Guten Morgen“ zurief, sagte diese: „He, junges Herrlein! Ihr seid recht vigilant, Gott behüt Euch! Aber ich hab die Gicht, und es macht mir viel Molesten, von meinem Karren herunter zu steigen: Ihr wärt wohl so gütig, junges Herrlein, und spanntet mir meinen Fritz aus, daß er sich sein Frühstück suchen könnte?“

Martin legte Hand an. Das Weih merkte, daß er sich vergeblich mühte, und sagte: „Ihr braucht nur das Kummt auszuhaken! – So, so! Nun geh, Fritz! Sieh, ob du was findst.“ Der alte Fritz schüttelte sich und begann sofort am Straßenrand zu frühstücken.

Martin geriet in einige Verlegenheit; er wußte nicht, ob er warten sollte, bis der Gaul satt wäre, um ihn dann wieder einzuschirren, oder ob er gehen könnte. Da sagte die Eigentümerin des frühstückenden Alten: „Großen Dank, gutes Herrlein! Gott segns euch! Ihr seid gewiß ein Student – wo wollt Ihr denn hin? Ihr seid wohl von Ebersdorf? Von Mupperg? Wie heißt Ihr denn?“

Als das Weib den Namen Bötzinger hörte, schrie sie: „Liebstes Gottle! Ha du!“ und schlug einmal über das andremal die Hände zusammen. „Ich habs ihm nachgeschrien: Laß die Bötzinger ungeschorn! Aber er hat mir net gefolgt. Nix is mit dem Marschall! Das hätt selmal ein schön Unglück werden könn'n! – Liebstes Gottle! Ich weiß alles!“

Martins Hand umklammerte krampfhaft seinen Knotenstock. Alles Rot wich ihm aus dem Gesicht, und er begann sich schon wieder als Achse zu fühlen.

Herrjele! Herrjele! Liebstes Gottle! Da auf diesem Fleck hab ichs ihm nachgeschrien: Hans, laß die Bötzinger ungeschorn! – Da, wo Ihr mir jetzt meinen Gaul ausgespannt habt, hat er selmal meinen Gaul eingespannt – der Leibknecht – grün und gelb! Hab ichs ihm net gesagt: Werd nur ein Marschall! – Und zwei Tag darauf wars schon aus mit dem Leibknecht! Herrjele! Herrjele!“

Die rotierenden Gewalten wollten die Achse in den Grund bohren.

Kommt her, gutes Herrlein! ich muß noch ein paar Wörtle mit Euch sprechen!“, sagte die Lindenelsa in ruhigerm Ton.

Martin trat mechanisch dicht an den Karren, stützte sich mit der Rechten auf seinen Knotenstock und hielt sich mit der Linken an einer Speiche an.

Die Sambel hab ich gut gekannt; sie war einmal bei mir wegen ihres Hans, und dem hab ich selmal geholfen; und zweimal wegen ihres Konrad aber dem war net zu helfen! Die Sambel war keine Hex! Die ist in den Himmel kommen! Sie war keine Hex, glaubt mirs, junges Herrlein!“

Martin rief: „Es gibt keine Hexen! Der Hexenglaube ist eine Hirnpest! Und daß ich in meinem Gemüt in Widerstreit stehe mit meinen Eltern und den Gelehrten und mit aller Welt, das macht mich unglücklich!“

Da strich ihm die Lindenelsa sanft über das Haupt mit ihrer krummen Gichthand und sagte: „Weiß net, daß es keine Hexen gibt. Aber die Sambel war keine; und gar manches Weib ist schon unschuldig verbrannt worden. – Der Hans ist ein gelierschemer Kopf; aber sie habn ihm die Mutter verbrannt, und nun jagt ihn der Fluch und die Rachgier. Vor sieben Jahrn hats ihm der Koburger Scheiterhaufen angetan! Im Gauerswald hab ich ihn gefunden, als ihn das Fieber schüttelte. Vier Wochen hab ich ihn gepflegt, und dann hat er im Maingrund die Schaf gehüt, und ein Roßkamm hat ihn nachher dem Herzog Johann Ernst in Eisenach als Leibknecht gelassen. Wird er denn noch leben, der arm Hans? Du liebstes Gottle!“

Er lebt noch!“, sagte Martin. „Im Steigerwald ist er Räuberhauptmann und läßt sich von seinen Spitzbuben, die ihm blindlings gehorchen, Marschall nennen.“

Herrjele, Herrjele! Der Marschall! Der Marschall! Wer weiß, was noch passiert!“

Martin fragte, ob er etwan den Gaul wieder einschirren solle. Die Lindenelsa aber wehrte ab: „'S ist net nötig, gutes Herrlein! Wenns Zeit ist, kommt schon wieder eins zum Einspannen. Gott segn Euch, daß Ihr net glaubt, die Sambel wär eine Hex gewesn! Bhüt Euch Gott, daß was Rechts aus Euch wird!“

Martin schritt fürbaß, und in seinem Kopf erhob sich eine sonderbare Gedankenjagd. Beinahe hätte er das Karrenweib obendrein für eine Hexe gehalten. Er wußte nicht, was er aus ihr machen sollte. Er hatte das Wäldchen hinter sich und schritt zwischen Feldern hin; die mutwilligen Späße junger Schnitterinnen hörte er nicht. Er verfehlte gar den Weg nach Ebersdorf und mußte ein Stück querfeldein laufen.

Gegen Mittag stand Martin in großer Spannung vor der Studierstube des Magisters Sebastian Lütz, wohlbestallten Pfarrers in Ebersdorf. „Noch einen Schritt, und du stehst vor dem Bötzingerschen Familienschatz, nur noch wenige Minuten, und des Äneä Sylvii historisch Werk wird dir ausgehändigt!“

So dachte Martin und hatte schon den Finger gekrümmt, um anzupochen: doch nein! „Erst noch einmal diesen wonnigen Gedanken denken! Gedruckt auf groß Regalpapier: ich werd es unter all seinen Büchern sofort erkennen!“

Der Gott der Ferien blickte durch das offne Hausflurfenster und flüsterte: „Martin, du tust wohl daran. Die Hoffnung vor der ungeöffneten Tür ist oft mehr wert, als die Wirklichkeit dahinter.“

Magister Sebastian Lütz hatte vor sich liegen: „Eine Defension-Schrift des erbarn weiblichen Geschlechtes wider alle desselben Lesterer und Verleumbder. Und sonderlich wider den Lesterschreiber, daß alle Weiber u. s. w. Zum Trost allen christlichen Weibes-Personen in Truck gegeben durch Ehrenfried Liebewohl von Marienbergk, Advocat bei unser lieben Frawen. Gedruckt im Jahr 1611.“

Er las eben die Stelle über die Weiber von Weinsberg, als es anklopfte. Auf sein „Herein!“ ward er von dem jungen Wandrer Martin überrascht. Ohne Vorbereitung und Einleitung zählte dieser dem staunenden Pfarrherrn fünfundzwanzig Gulden auf den Tisch mit den Worten: „Der Pater Willius hat ehedem als Pfarrer von Sonneberg zwanzig Gulden von Euch geborgt; die zahlt Euch der Bischof von Würzburg wieder heim und fünf Gulden Zinsen dazu, und dafür sollt Ihr mir meines Großvaters Buch, des Äneä Sylvii historisch Werk in Münchsschrift auf groß Regalpapier gedruckt, das Euch Pater Willius als Pfand gelassen, aushändigen, damit es an seinen rechtmäßigen Erben gelanget.“

Der Magister Lütz schlug die Hände zusammen und starrte Martin an wie eine Erscheinung aus einer andern Welt. „Ist das ein Blendwerk des Teufels? Pater Willius – Äneas Sylvius – Bischof von Würzburg – fünfundzwanzig Gulden!“

Dem Magister wurde ganz sonderbar zu Mut. Endlich sagte er wie träumend: „Mit den zwanzig Gulden, das hat schon seine Richtigkeit, auch das mit des Äneä Sylvii historischem Werk; aber was geht das den Bischof Julius an? Und wer seid Ihr, junger Freund? Doch fein Jesuitenschüler? Was hab ich mit Euch und Euerm Großvater zu schaffen?“ Und mit gehobner Stimme setzte er hinzu: „Steckt Euer Geld nur gleich wieder ein! Was habe ich mit dem Bischof Julius zu schaffen? Einem alten Feind von mir, der mich von Gochsheim vertrieben? Steckt nur Euer Geld wieder ein; ich laß mir keine Schlingen legen!“

Martin merkte nun, daß sein Vorgehen ohne alle Vorbereitung und Vermittlung den ehrwürdigen Pfarrherrn in Verwirrung gebracht hatte, bat deshalb um Verzeihung und erzählte seine ganze Geschichte vom Biertisch in Neustadt an bis zum Ebersdörfer Pfarrhaus.

Die Sicherheit, das Gefühl der Unantastbarkeit, die das Daheim gewährt, insonderheit aber die Studierstube dem glücklichen Insassen, hatte sich während der Erzählung Martins bei dem Pfarrherrn wieder eingestellt. Der Ranzen des Erzählers war unterdessen auf die Seite gebracht worden, eine Kanne Wein träufelte Erquickung für die erzählende Zunge, und bei der Reisepartie vom Steigerwald bis Schweinfurt fügte der Herr Magister ein, daß Ottendorf am Main, zwischen Haßfurt und Schweinfurt, sein Geburtsort und er in Schweinfurt Konrektor gewesen sei.

Martin war mit seiner Erzählung zu Ende. Es hatte sich ein Schatten auf das Antlitz des Pfarrherrn gelegt. „Guter Freund!“, sagte er, „ja mit den zwanzig Gulden hat es seine Richtigkeit. Weil ich aber vermeinte, das Buch gehöre dem Pater Willius, so betrachtete ich es als mein Eigentum, als er, ohne seine Schuld abgetragen zu haben, aus dem Protestantischen echappieret. Derohalben habe ich wie in gutem Recht diesen Schatz vor Jahren meinem Freund, dem Superintendenten Paulus Wolf in Königsberg geliehen. Er ist ein gar gelehrter Mann und hat fünfundachtzig Zentner Bücher mitgebracht, als er in Königsberg anzog. Da selbiger gute Freund aber vor sechs Jahren in den Hundstagen melancholisch und sinnlos worden, drei bis vier Wächter hat bekommen und im September an Ketten hat gelegt werden müssen, und ob er wohl nachmals wieder geprediget, aber doch wieder in seine Krankheit zurückgefallen, hernach jedoch es wieder besser mit ihm worden, ward er nach Bischleben vocieret; so mag wohl der Äneas Sylvius mit nach Bischleben gewandert sein, sintemal ich nichts wieder von selbigem Buch vernommen habe.“

Unter sothanen Umständen blieb dem enttäuschten Philosophen in Schülerschuhen nichts übrig, als, anstatt des Äneä Sylvii historisch Werk in Empfang zu nehmen, die fünfundzwanzig Gulden wieder einzustecken. Wie sehr er sich auch weigerte, der Herr

Magister Lütz tat es nicht anders: der Bischof Julius wolle für das Geld das Buch zurückkaufen, er habe aber das Buch verscherzt und darum keinen Anspruch auf die Rückzahlung der Williusschen Schuld.

Niedergeschlagen nahm Martin Abschied vom Pfarrer Lütz. Er war doch zu nahe an Mupperg, als daß er einen Umweg über Bischleben bei Erfurt hätte machen können, wie einladend auch nach der Meinung seines Freundes Jörg Eisentraut die Umwege in den Hundstagen waren in Rücksicht auf die Eröffnung „neuer Spekula“ fürs Leben.

Als Martin über den Markt in Koburg ging, und ihn der Gedanke beschäftigte, daß er in höchstens vier Jahren die Universität Jena beziehen werde, von wo aus er Bischleben näher habe, plätscherte wieder der Marktbrunn: „Das ist doch gar nicht der Kustos Bötzinger; das ist ein gelehrter Reisender!“ Und Vetter Lörs alter Hund, ein Erzbummler, stieß den über Umwege nachdenkenden in die Kniekehle. Martin drehte sich erschrocken um und rief: „Alberner Echter, der du bist! Geh nach Haus; ich war beim echten Echter in Würzburg!“

 

Seit jenem Sonntag abend, wo Bötzinger senior und Bötzinger junior mit Rebellion in den Köpfen von Neustadt nach Hause gekommen waren, und die gute Mutter Margret im stillen die Ursache der Verstimmung aufs Bier zurückgeführt hatte, war es in der Schule zu Mupperg auffallend schwül geworden. Solch Hundstagswetter war da noch nie gewesen. In Martins erster Wanderwoche war Herr Joseph Bötzinger ungemein ernst und in sich gekehrt, zuweilen mürrisch; aber es war noch mit ihm auszukommen. Frau Margret erschien in den ersten Tagen nach Martins Abreise heiter; aber dann wurde sie auch still und ernster. Vom Sonntag an wurde über Martin zwischen Joseph und Margret kein Wort mehr gewechselt. Sie dachte bei sich: „Ich bin schuld, ich habe zugeredet.“ Er dachte:Ich bin schuld, ich habe nicht genug abgeredet.“

In der zweiten Woche war mit dem Schulmeister von Mupperg fast nicht mehr auszukommen. Die Schuljugend hatte zwar auch Ferien, und das war gut; aber sie merkte es doch, daß in der Schule schlechtes Wetter war, und freute sich zwiefach der Hundstage. Wenn der Herr Joseph düstern Antlitzes in die Flur hinausstürmte, saß Frau Margret im obern Stübchen bei der Bindlacher Kräuterschachtel und betete und weinte. Gegen abend wanderte sie täglich zum Dorf hinaus auf dem Wege, auf dem sie ihren Martin begleitet, bis zur Stelle, wo sie ihm die Reiselehren gegeben hatte.

Der Eheherr schlug bei seinen Flurgängen stets die entgegengesetzte Richtung ein: Würzburg im Rücken.

Für den Mupperger Schulmeister gab es keinen Gott der Ferien; solcher Aufschwung ist dem Volksschullehrer versagt. Zu ihm würde dieser Gott gesagt haben: „Joseph, du bist ein braver Mann; eine Hundstagsreise wäre dir auch gesund!“

Die zweite Woche – die ſchwülste in dieser Ehe – ging zur Neige. Es war Sonnabend, der Pfarrer hatte schon die Liednummern geschickt; in der Schule war alles blank und gerüstet wie zu einem hohen Fest. Gegen Abend machte Herr Joseph seinen Spaziergang, Würzburg im Rücken, und war so weich, als wäre ihm sein Martin gestorben. Frau Margret aber, den Strickstrumpf in der Hand, machte ihren Weg, als ginge sie gen Würzburg, und ihr Antlitz stimmte zur Feiertagsrüstung in ihrem Haus; denn im tiefsten Grunde ihres Herzens flüsterte es: „Heut kommt er!“ An der Stelle angelangt, wo sie vor fast zwei Wochen Abschied von ihrem Sohn genommen hatte, blieb sie stehen. Ein kleines Eichenwäldchen nahm den Weg auf. Margret setzte sich hinter einen Busch und strickte, als wollte sie mit ihren emsigen Fingern ihren Martin herbeizaubern. Der marschierte aber schon zum Wäldchen ein ohne Glauben an jeglichen Zauber. Er glaubte nur an die Dreifaltigkeit, an die Bedeutung des Julius Bischof in Würzburg, an seine fünfundzwanzig Gulden, an des Äneä Sylvii historisch Werk und – an die große Fledermaus. In wenig Minuten hatte er das Wäldchen durchschritten und dachte: „Morgen gehst du mit deinem Herrn Vater nach Neustadt zum Bier.“ In demselben Augenblick sprang seine Mutter hinter dem Busch hervor und rief: „Gott sei Dank!“

Martins Blick umflorte sich, als er der erregten Mutter die Hand gab. Sie sah lange dem glücklich Heimgekehrten in das sonnengebräunte Gesicht, und es kam ihr vor, als sei darinnen etwas zu lesen, was vorher noch nicht darinnen gestanden hatte. Aber sie grübelte nicht, denn sie las zur Hebung ihres Glücks einen Gewinn heraus. Im Menschenantlitz strahlt das Innere aus wie die chemische Kraft der Erde in ihrer blühenden Oberfläche: es bleibt immer etwas Geheimnisvolles, selbst für das Mutterauge. „Komm nur! komm nur!“, mahnte Margret, „daß dich der Vater auch sieht!“

Es war dunkel geworden. Martin ließ sich beim Schein einer kleinen Hängelampe das Abendbrot vortrefflich munden, und die glückliche Mutter studierte an dem neuen Etwas, als Herr Joseph Bötzinger von seinem Spaziergang zurückkehrte. Er blieb vor dem Fenster, an das vor sieben Jahren an dem verhängnisvollen Abend die Sambel gepocht hatte, stehen und sah das Glück seiner Margret. Den Martin wollte er nicht gleich ordentlich angucken; er ging leise wieder von der Schule hinweg und blickte in der Richtung nach Würzburg in das nächtliche Dunkel hinaus. „Ich wollt, ich wär dabei gewesen!“, sagte er zu sich. Dann trat er herzhaft über die alte Schwelle und mit einem tapfern „Guten Abend!“ in die Stube. Martin sprang auf und drückte seinem Vater die Hand; und Margret erfaßte die andre Hand ihres Eheherrn und sagte in freudiger Rührung: „Joseph, nun ists gut!“ – gerade als ob Joseph auch von einer langen Reise glücklich zurückgekehrt wäre.

Nun folgte die Reiſebeſchreibung, und die Eltern waren so gespannt wie unsre Kinder, wenn sie zum erstenmal den Robinson lesen.

Martin zählte seine fünfundzwanzig Gulden auf den Tisch. „Ein Kapital!“, rief der Vater. „Aber das ist Jesuitengeld; was fangen wir damit an?“

Martin sagte: „Ich hoffe des Äneä Sylvii historisch Werk in Bischleben zu holen; dann zahlen wir das Geld an den Herrn Pfarrer Lütz heim.“

In Bischleben? Nur nicht in diesen Hundstagen!“, warf Margret erschrocken ein. Martin beruhigte sie: „Wenn ich auf der Universität bin in Jena, ists näher; dann ists auch noch Zeit.“

Der Herr Joseph verwahrte das Geld in seinem Tischkasten. Und die Mutter mahnte an die Nachtruhe. Sie packte den Ranzen aus, während der Vater Dr. Johann Gerhards „Tägliche Übung der Gottseligkeit“ herbeiholte.

Martin, du hast meine Salbe ja nicht angerührt. Gott sei Dank, daß es so gut abgelaufen ist!“

Nun betete der Hausvater mit lauter Stimme aus dem kleinen Buch. Das inbrünstige Gebet der Familie in der Schule zu Mupperg verscheuchte die große Fledermaus und stieg als ein angenehmes Opfer empor zu den lichten Höhen des Friedens, dahin einst auch die Seele der Sambel empor gehoben ward als ein Opfer.