Martin Bötzinger. Ein Lebens- und Zeitbild aus dem 17. Jahrhundert

 

Fünfundzwanzigstes Kapitel

Wahn um Wahn

 

Das Gelächter eines Verzweifelten?“ So hör ich meinen Leser fragen.

Es ist ja lange her, und der Verzweifelte ist längst gestorben, und du kannst ihm nunmehr nicht helfen. Solltest du aber glauben, es wäre gar nicht so schlimm gewesen, so würdest du dich irren. Es ist überhaupt oft schlimmer, als du glaubst – heute noch. Und es wäre vielleicht gut, wenn du einmal über Verzweiflung nachdenken wolltest.

Der Seele, die sich in diesem Zustande befindet, ist ein wichtiger Augenblick des Erkennens aufgegangen, des Erkennens, das dem unerwarteten Blick durch einen Riß des Scheins ins Sein entspringt. Wir weben alle eifrig an dem Schleier, der das Sein verhüllt; die ganze Welt webt emsig an dem Truggewebe, das die Seelen umnachtet. Und wenn ich behaupte, daß auch unsre fortgeschrittene Wissenschaft lebhaft im Dienste dieser Trugweberei steht, so wirst du mich für wahnsinnig halten. Gemach! Der Schein ist zu allen Zeiten der Schatten gewesen, worin die Seelen vergehen. Das, was ist, erforschet ihr nicht. Glücklich, wer es ahnt und in seinem Gemüt die suchenden Wurzeln verspürt.

Unser Verzweifelter aber lachte nicht, weil der Schein einen Riß bekommen hätte; er lachte, weil er den Schein für das Sein gehalten hatte, also das Sein ihm verschleiert war. Aber seine Seele ward von der umgekehrten Kausalität dieses Vorganges gemartert. Die subjektive Welt war zur objektiven geworden, und umgekehrt, und beide Welten standen im Gegensatz zu einander. Eine tückische Konstellation hatte ihm ein Scheinbild vorgegaukelt, das ihm als Sein zermalmend in die Brust gefallen war: was ihm als Wahrheit in der Seele gestanden hatte, ward durch das Trugbild in Wahn verkehrt. Das Sein war ihm zum zerrissenen Schein

geworden, und durch den Riß drang das Sein vernichtend auf ihn ein. Das war der Vorgang in ihm, also die Verkehrung – nicht bloß Verschleierung – des Seins. Ein tückischer Lebensaugenblick ist imstande, die Welt auf den Kopf zu stellen. Was ist Wahrheit? Was ist Wahn? Die frostige Lache der Verzweiflung gellt durch das All.

Und nun, mein Leser! Wenn dich mein Versuch, mit dir einmal über Verzweiflung nachzudenken, nicht zur Verzweiflung gebracht hat, so wollen wir einander gratulieren und uns endlich nach unserm geistlichen Simplicius umsehen. Vorerst aber noch ein kurzes Wörtlein. Die Wirklichkeit ist nie zum Lachen, nur der Schein. – Ob dem Menschen das Sein zum Schein wird, oder der Schein zum Sein: in jedem Falle wird ihm der Schein verhängnisvoll. Das Durchdringen zum Sein führt zur Genesung. Wer darf hienieden auf Genesung hoffen?

Einen Teil seines Grams hatte Martin Bötzinger auf die lahme Magd abgeladen, und diese hatte auf ihrem schwankenden Karren die Fracht mit von hinnen genommen und war ihrer zum Teil in Heldburg durch des Ratsherrn Michael Böhms Zorn ledig geworden. Leichtern Herzens war die Lindenelsa in ihrer Behausung angekommen.

Zwar hatte ihre Zuversicht und ihr Glaube an die Beständigkeit der Jungfer Ursel einen wohltuenden, beruhigenden Einfluß auf das Gemüt des jungen Theologus ausgeübt; aber bald nach der Entfernung der Gompertshäuser Großmacht fing der Gram an, da weiter zu nagen, wo er durch die Elsa gestört worden war – und daß in selbiger Nacht noch die riesigen Schupfmeister mit der furchtbaren Kuhhaut gekommen waren, weiß mein lieber Leser schon aus dem vorigen Kapitel.

Am Morgen waren dem Hauslehrer alle Glieder wie zerschlagen. Und auch zerschlagnen Herzens betete er beim Tagesanbruch anstatt eines frischen Morgengebets einen Bußpsalm. Auf den Nachmittag war er – laut Konferenzbeschlusses – in das Palais der Gompertshäuser Großmacht beschieden, ohne zu wissen, daß die Heldburger Großmacht auch geladen würde.

Die Gompertshäuser Politik hatte ihren Sieg auf einen Schachzug gesetzt, auf eine plötzliche, ungeahnte Konfrontation der sich entfremdeten Mächte.

Die Schwingungen des Bußpsalms kreuzten sich ohne Aufhören mit denen der Sehnsucht und des Zweifels in des armen Theologi Brust. Das sündige Gemächte, die holde, blauäugige Jungfrau und der Römhilder Lautensack konntens einander nicht abgewinnen.

Endlich war die informationsfreie Zeit herangekommen. Den Mupperger Schlehndornstock in der Hand, pilgerte der Gequälte, jeden Weg meidend, durch den Wald in der Richtung nach Gompertshausen. Und just, als der Marschall Schweigmund von Unfind zu Ursel die Worte sprach: „Wißt denn, die Jugendbekannte des Martin, das Fräulein Susanna in Rudolstadt, ist mir heimlich verlobt!“, fiel diese Gruppe dem traurigen Pilger in die Augen, nahe genug, daß er sofort den Spitzbubenmarschall Hans und die Jungfer Ursula Böhm erkannte. Er sah, wie die Heißgeliebte aufsprang, wie sie die Hände auf die Brust preßte und wie betend das Antlitz gen Himmel wandte. Er sah, wie sie dem Spitzbubenmarschall die Hand reichte, und wie ihm ihr Haupt an die Brust sank.

Höllische Verführung! – Betrug! – Verrat! – Vernichtende Rache!“ – So stürzte es wie die krachenden Weltbalken in der Götterdämmerung aus dem Kopf des Ärmsten nieder in die Brust. Die frostige Lache der Verzweiflung gellt durch das All. Die Kraft ist erschöpft: der Ärmste stürzt bewußtlos zu Boden.

Von der Kühle des Abends getroffen, rannen die an den Sonnenstrahlen in die Luft emporgekletterten Dünste erschreckt zusammen und begannen als weißer, wallender Schleier die Gründe zu decken, und aus den Schluchten heraus begann die Nacht zu steigen, um sanft zu verhüllen, was dem Nebel unerreichbar bleiben möchte. Aber alles, was von der stillen lieben Nacht bedeckt wird: es ist noch. Sie vermag nichts auszulöschen, weder Freude noch Leid.

Der Eulenvater auf der fränkischen Leuchte sagte: „Holde Ariadne! Unsre Zeit ist gekommen; brechen wir auf!“

Wohl, mein ehrenfester Herr Gemahl! Sollten wir nicht etwa den Weg unsers Informators einmal kreuzen?“

Evoe!“, schrie der Eulenvater. „Evoe!“, stimmte die treue Genossin ein. Ihr lockeres seidnes Gefieder trug sie sanft und heimlich ins Tal hinab. Da umkreisten sie bedeutungsvoll mehrmals einen Punkt und ließen sich dann auf einer Eiche dicht neben einander nieder. Und der Eulenvater wandte sein Haupt dem Ohr seiner Genossin zu und sagte: „Hast du ihn erkannt, der da unten liegt?“

Ei ja! mein verehrter Ehewirt! Es scheint ihm übel zu sein.“

So scheint es, so er nicht gar das Zeitliche schon gesegnet hat. Diese jungen Theologici sind gemeiniglich einer sonst seltsamen Krankheit unterworfen, und gar mancher stirbt daran.“

Ich werde mich zu ihm hinablassen und ihm den Puls befühlen.“

Das leidet nicht unsre Weisheit, geliebte Ariadne! Wir taxieren die Art aus der Höhe. Sahst du nicht, daß er eben seinen rechten Arm mit dem Knotenstock bewegte? Ich halte dafür, daß er bald unter die Zigeuner geht; derohalb wird er das Nachtleben im Walde probieren.“

Evoe!“, schrie die Eulenmutter. „Evoe!“, schlug der Eulenvater nach; und beide nahmen ihren Weg nach der Festung zurück.

Der Kranke erhob sich und tastete umher. Dann tappte er langsam aus dem Walde hinaus auf die Wiese und schlug die Richtung nach Heldburg ein. Nur der Instinkt leitete den schlotterig durch die Nacht Wandernden, daß er endlich die Festung und seine Wohnung erreichte. Dort sank er auf das Bett und fiel in ein heftiges Fieber.

Die fränkische Leuchte ragte über den Nebel empor und glühte im Morgenrot. – Schein! – Denn es war ein Glühen ohne Wärme. Aber die Glut in des geistlichen Simplicii Antlitz war nicht Schein: das war brennendes Feuer – entzündet am – Schein! Nun wütet es in den Adern des Verblendeten.

Der Herr Amtsschösser war von seinem Hauslehrer Pünktlichkeit gewohnt, und da sich Bötzinger zehn Minuten nach der bestimmten Zeit noch nicht zur Morgensuppe eingestellt hatte, begab sich der besorgte Herr in dessen Wohnung.

Was ist passiert?“, rief der Herr Amtsschösser erschrocken, als er seinen Informator unentkleidet auf dem Lager fand. „Ein Rätsel über das andre! Zieh Er sich aus und leg Er sich ordentlich in sein Bett, Er ist ja sehr krank!“, redete Andreas Götz den sich Erhebenden an. Ich will gehen und ein Tränklein für Ihn besorgen.“

Kaum hatte sich der Herr Schösser entfernt, als auch schon die Magd bei Bötzinger erschien und das Bett aufschüttelte. „Seht, daß Ihr in Schweiß kommt, es wird ein Verschlag sein“, sagte sie im Weggehen. Bötzinger entkleidete sich; er fühlte sich sehr schwach und vermochte kaum den Kopf zu erhalten. Bald umfing ihn der schmeichelnde Flaum, und er seufzte tief auf.

Der Herr Amtsschösser kam wieder, in der einen Hand einen Topf, in der andern einen Becher, und setzte sich vor das Bett. „Da trink Er, es ist Brüh von Holzäpfelschnitzen! Das kühlt und wird ihm gut tun.“

Gierig trank Bötzinger den kühlen, säuerlichen Saft; dann sank er matt ins Kissen zurück.

So, nun ruh Er schön“, sagte der Herr Amtsschösser, „es wird schon wieder besser werden.“ Er beobachtete den Kranken noch einige Zeit; dann postierte er den alten Kaspar in des Hauslehrers Wohnung zu gewissenhafter Wache.

Drunten im Städtchen hielt eben vor dem Hause des Ratsherrn Michael Böhm die lahme Magd von Gompertshausen. Die Lise kam und half ihr vom Karren.

Wir hätten doch räuchern solln!“, flüsterte Lise der Else zu; „merk, daß 's noch immer net gheuer im Haus ist.“

Mitten im Hofe blieb Elsa stehen, stemmte die Arme in die Seiten und sah die Lise mit großen Augen an: „Sooo? Mei Sach war nix? – Merks wohl. Die lahm Magd kann nix! Die wird abgesetzt! – Solch Volk wie du und der Zacher versteht nix! Räuchert eure Ställ aus, daß eure Säu fressen und euch die Kälber net gestohln werdn!“

Bei der Urschel gibts nix zu räuchern.“ „Was macht's arm Kind? Sie wird fei noch net gelacht ham heut! Weiher? Net!“

Ich hab sie noch gar net gesehn heut. Bei der Frühsuppen hat sie gefehlt. Weiß Sie was, Els? Dös is 'n Elend in söttn Haus! Und ich kann net fort; wenns am schlimmsten is, flenn ich und möcht die Jungfrau Maria oder ein Engel sein, daß ich helfen könnt, denn 's Herz tut mir weh, ach, gar so weh, daß ich den guten Leuten net helfen kann; und wenn unser Herrgott nicht bald einkehrt, meng ich mich auch noch in die Geschicht. Dem Zacher hab ichs schon lang gsagt: so tuts net mehr gut!“

Da machte die Lindenelsa kleine Äuglein und sagte: „Bist brav, Lise! Aber wir brauchen deine Einmengerei net. Was ich net schlicht“ –

Sie hob die krummen Gichthände bedeutungsvoll hoch auf, und ihre Augen wurden groß und flammten. Dann humpelte sie spornstreichs der Treppe zu. Lise half ihr hinauf. In der Hausflur stieß Elsa auf den Ratsherrn mit dem spanischen Rohr in der Rechten. –

Einen guten Morgen ins Haus, Herr Böhm! Wollt Ihr ausgehn?“

Hab einen Gang zum Herrn Superintendenten!“

Wenns wegen Eurer Tochter ist, so bleibt da. Ich hab derwegen notwendig mit Euch zu reden und kann Euch mehr sagen als der Superdent.“

Euretwegen wollt ich zum Herrn Superintendenten. Dieweil ich weiß, daß unsre Urschel gestern nachmittag bei Euch war, aber gestern abend uns net angesprochen hat, Vater und Mutter net, und heut sich auch noch net hat sehen lassen, muß ich denken, daß in Gompertshausen ein böses Spiel mit unserm Kind gespielt wird, so es uns fremd macht. Mich berücket Angst und Not, daß ich net weiß, wo aus noch ein!“

Da streckte wieder die lahme Magd ihre krummen Gichthände aus und sagte mit tiefer, ernster Stimme: „Da sind meine elenden Händ an kurzen Armen. Ihr seid Ratsherr und habt längere Arm; und Ihr geltet öpes beim Superdent, und der hat noch längere Arm; und der Superdent gilt öpes beim Herzog, und der hat himmellange Arm! Aber die langen Arm machen alle nix und lassen die dickwanstigen, kahlköpfigen Tagediebe im Land rum streunern und sittsame Ratsherrntöchterle fangen und binden und schinden! Sötte Sachen litt die lahm Magd net, wenn sie längere Arm hätt. Und wär net der herzoglich Postreuter von Eisenach dazu kommn, den die langn Arm verbrennen wolltn, so wärs um die Urschel gschehn gwest! Daß Ers nur weiß, gnädiger Ratsherr!“

Dem Ratsherrn war das silberbeschlagne Rohr aus der Hand gefallen. Er stand da mit offnem Munde, starr vor Entsetzen. Die Frau Böhm, die in der Küche vom Fangen, Binden und Schinden der Ratsherrntöchter gehört hatte, war auch herzugeeilt und starrte blaß wie der Tod die lahme Magd an.

Geht zum Superdent und verklagt mich, Herr Böhm, derweil erzähl ich Eurer Frau, was ich weiß“, sagte die Lindenelsa und hing sich an den Arm der erschrocknen Frau Böhm und zog sie in die Stube. Dort führte sie die Willenlose an den lederbeschlagnen Armstuhl und sette sich zu ihren Füßen auf einen Schemel. „Habt keine Sorg, 's ist alles gut abgelaufen; kommt erst zu Euch, daß ichs Euch erzähl, eh die Urschel kommt; denn sie soll net mit anhörn die bös Geschicht, in der sie gefangen war.“

Der Ratsherr trat auch ein, rückte sich einen Stuhl an die Seite seiner Gemahlin, setzte sich und wartete der Erzählung der lahmen Magd.

Die Aufregung, in die die Eltern durch die Erzählung der Elsa versetzt wurden, war unbeschreiblich. Einmal über das andremal hatte Elsa die ganze Macht ihres Wesens herauszukehren, um Vater und Mutter abzuhalten von dem Vorhaben, zu ihrer Tochter zu eilen.

Sola, nun wißt ihrs. Nun wollen wir still warten, bis die Urschel herunterkommt, wolln sie tröstn und ihr Glück wünschen zur Rettung und zum neuen Licht, das ihr der Eisenacher aufgesteckt hat. Nun seid zufrieden und laßt net merken, wie ihr erschrocken seid, und daß ihr euer Kind im feurigen Ofen gschaut habt. Es ist ihr auch der Himmel aufgetan worden; und sprecht a weng mehr vom Himmel als von der Höll; dös wird euch und der Urschel gut tun.“

Da trat Ursel in die Stube, blaß, aber die Heiterkeit des Friedens im Antlitz. Es war den Eltern und der lahmen Magd, als schauten sie in eine stille Blumenaue nach einem gnädigen Gewitter. Der Mutter trat ein zartes Rot auf die Wangen, und darüber rollten Zähren. Der Vater erhob sich und begann langsam auf und ab zu gehen, die Hände gefaltet. Und in dem Gesicht der Lindenelsa begann ein ganz sonderbares Spiel der Mienen, bald ins Saure, bald ins Süße, bis auch ein paar große Tropfen in den Wasserrunsen hinabrannen und auf den Gichthänden aufschlugen, so, daß Elsa erschrak und aufstand:

Du liebstes Gottle! Wir werden geprüft, Jungfer Urschel, aber der liebe Gott wirds ja nu gut sein lassen. Er hat den Höllenbraten einen Himmelsritter in den Weg geschickt, und der wird Euch wohl gsagt ham, daß es für Euch noch a weng ein'n Himmel gibt.“ Und mit diesen Worten reichte Elsa der Jungfrau die Hand und führte sie zu ihrer Mutter. Diese drückte dem Kinde die Hand und verließ dann still die Stube. Und der Ratsherr setzte vier Stühle an den Tisch und holte das Gebetbuch herbei. Die Mutter kam bald zurück und setzte Brot, Obst und einen Krug Wein auf den Tisch, und als alle vier Personen an dem gesegneten Familienaltar Platz genommen hatten, begann Michael Böhm zu beten:

 

Wenn wir in höchsten Nöten sein

Und wissen nicht, wo aus noch ein,

Und finden weder Hilf noch Rat,

Ob wir gleich sorgen früh und spat:

 

So ist das unser Trost allein,

Daß wir zusammen insgemein

Dich anrufen, o treuer Gott!

Um Rettung aus der Angst und Not.

 

Die Gebetübung des Frommen ist immer ein Quell des Trostes und Friedens, der Stärkung und Seelenaufrichtung gewesen. Und als die letzte Strophe des verdeutschten In tenebris nostrae mentis von Joachim Camerarius:

 

Auf daß von Herzen können wir

Nochmals mit Freuden danken dir,

Gehorsam sein nach deinem Wort,

Dich allzeit preisen hier und dort -

 

verklungen war, neigten sich die andächtigen Häupter stumm einen Augenblick, und dann sagte Elsa: „Jungfer Urschel, nun wollen wir einen stärkenden Trunk und einen Bissen Brot nehmen. Ihr müßt Eurer Gstalt a weng wahrnehmn, daß Ihr net runterkommt. Sola!“ –

Nachmittag begegneten der lahmen Magd auf ihrem Heimwege viele der Neugierigen, die draußen im Walde den erstochnen Pillenhändler mit falscher Tonsur hatten sehen wollen. Und von jedem der ihr Begegnenden wurde sie angeredet: „Kommt Ihr weit her? Habt von der Mordtat wohl noch nix ghört? Oder: Wollt Ihr auch dem Hinneröm die letzte Ehr gebn? Oder: Euch und so hätt der Pillenmönch wohl net angefalln, Elsa? Oder: Ihr habt wohl den Mörder einfangen wolln?“

Aber die lahme Magd parierte jeden Stich. „Ich komm aus dem Türkenkrieg und soll im Eselland für den Sultan Einkäuf mach! – Der tot Unflat wird wohl net reinlicher sein wie der lebendig; und wenn du bei ihm warst: dös ist der Ehr grad gnug! – Weil der meschant Pillenmönch vor dem Elend immer noch mehr Respekt gehabt hätt als du! – Wenn ich mit dem Fangen was verdien'n könnt, fing ich lieber Landstreicher und Tagdieber ein; die laufen ja dutzendweidsa rum.“

Es war Abend geworden, und die müde lahme Magd hatte ihr Lager aufgesucht und murmelte vor sich hin: „Liebstes Gottle! war dös wieder a Sturm! Nun wird ja Fried werdn. Wenn mir gestern die Sach net krumm gegangn wär, wär alles in Nichtigkeit. – Wo er nur gebliebn ist, der Bötzinger? 'S macht mir Kopfzerbrechens. Er wird sich doch weiher net mehr mit dem Peter Lautensack rumschlagen? Es tät beinah not, ich führ noch einmal auf die Festing. Aber der Ratsherr weiß ja nun, wie der Has läuft. Drum hab ich ihm gesagt, daß er sich auf der Festing bald sehn lassn muß. Aber so 'n Ratsherr bleibt der Herr im Rat und wird net Herr über den Rat und kommt vor lauter Rat net aus dem Rat raus und weiß seines Rats kein End, daß er drin erstickt. Hat er denn noch Ursach, die Festing zu umgehn? Ich kann meinm Fritz doch net noch nmal die möderisch Fuhr zumutn! Der Ratsherr muß den Knoten mach – eingfädelt hab ich!“

Die Russen über der schlummernden Elsa begannen ihre Fühlfäden spielen zu lassen, und Herr Niedlich und Frau Flink mit ihrer unterirdischen Sippe begannen ihr heiteres Nachtpräambulum in dem stillen Salon der Gompertshäuser Großmacht.

Am selbigen Abend saß auf dem „Fürstlichen Haus“ in Heldburg der Ratsherr Michael Böhm beim Schoppen allein an einem Tisch. Der Bürgermeister Tobias Wehner, der Goldschmied Wolfgang Wustmann, Petrus Wehner und andre saßen zusammen in lebhaftem Gespräch, und der Ratsherr Böhm wollte das Gespräch nicht unterbrechen und hielt den Tisch auch für voll besetzt. Im Grunde seiner Seele aber fühlte er eine Abneigung, sich an einem Gespräch zu beteiligen, das auch seine Tochter berühren mußte; denn an dem vollbesetzten Tische war die Rede von der Mordtat im Gellershäuser Holz. Er hätte sich denken können, daß heute abend die Weinstuben erfüllt sein würden von dieser Materie und hätte daheim bleiben können. Doch daran hatte er nicht gedacht: wohltuende Ruhe nach schwerem Schreck und neue Hoffnung für sein Kind sperrten alle Nebengedanken aus und hatten das Bedürfnis nach einem Trunk in Gesellschaft in ihm erweckt. Er war nicht gut angekommen; aber umkehren mochte er auch nicht. So saß er sinnend da bei seinem Schoppen, als stäke er im Rat bis über die Ohren, als der Organist Nikolaus Fleischmann eintrat und sich zu ihm setzte.

Ei, schön guten Abend, Herr Böhm! So allein?“

Wollte mich net lang aufhalten; derohalb postierte ich mich net weit von der Tür.“

Der Organist hatte wahrgenommen, wovon oben an dem vollbesetzten Tische die Rede war, und bog sich zum Ratsherrn hinüber mit den Worten: „Ist mir sehr auffällig, was ich anjetzo von meinem Nachbar beim Ausgehen hörte, nämlich daß der Hauslehrer Bötzinger gestern nacht auch angefallen worden sein und schwer verwundet droben liegen soll in hitzigem Fieber. Weiß Er etwas genaueres, Herr Böhm?“

Der Ratsherr war unwillkürlich zurückgefahren und war wieder blaß und steif geworden wie vormittags, als die lahme Magd vom Schinden der Ratsherrntöchter gesprochen hatte.

Er scheint noch nichts zu wissen, Herr Böhm?“

Nein, nein! – Nein! – Gar nix!“, rief der Ratsherr entsetzt. Er hatte seinen Schoppen kaum halb getrunken; aber er erhob sich und ging stumm hinweg.

Nun schloß sich der Herr Nikolaus Fleischmann den andern Männern an und erzählte auch denen seine Neuigkeit. Alle tranken heut einen Schoppen mehr als sonst; denn die Mordgeschichten fielen ihnen schwer auf die Leber.

Der Ratsherr Michael Böhm aber ging nicht heim. In der fürchterlichsten Aufregung schlug er den Weg nach der Festung ein. Er fand das Tor schon geschlossen und setzte sich stöhnend an den Wegrand, stemmte die Arme auf die Kniee und stützte mit beiden Händen das kummervolle Haupt. So saß er lange.

Da ließ sich wie von ungefähr das Eulenpaar über ihm auf der Mauer nieder. Und der Eulenvater flüsterte seiner Gefährtin zu: „Holde Ariadne! Gedenken wohl die Ratsherren auch unter die Zigeuner zu gehen?“

Wenn guter Rat teuer ist, reißen sie aus vor dem Rathaus.“

Der Weisheit Born wird ihnen manchmal trocken, meine liebe Mutter der Weisheit. Und wenn das Trichtern einmal allgemeiner wird, so dürfte der Rathäuser Unberatenheit wohl unübersehbar werden.“

Das kann so kommen. Für unsre Rathäuser liegt die Garantie im Ei!“

Evoe!“, schrie der Eulenvater. „Evoe!“, stimmte die Eulenmadame ein. Und sie schwangen sich auf und huschten davon in die Wälder.

Den Ratsherrn Michael Böhm hatte das Eulengeschrei aus seinem dumpfen Brüten, in das er verfallen war, aufgeschreckt. Er stand auf und ging langsam den Berg hinab, voll Sorge um die einzige Tochter und ihren Herzensfreund.

Jungfer Ursel war immer noch matt und hatte sich früher als sonst nach ihrem Giebelstübchen begeben, und bald darauf war auch die Mutter dem Zauber des Sandmanns im großen Himmelbett verfallen. Zacher und Lise saßen auf dem Futtertrog in der Stallhalle und brauchten sich heut nicht mit Märchen und Hexengeschichten zu behelfen, sintemal es viel zu grübeln gab über die Bluttat im Gellershäuser Holz. Auch Zacher war am Vormittag dort gewesen und hatte den erschlagnen Pillenhändler besichtigt. Sie hatten sich in allerhand Vermutungen ergangen, der Zacher und die Lise. Aber das Grübeln war nicht Zachers Sache; und so hatte sich in ihm unvermerkt die Erinnerung an das Mordbild in einen lebhaften Traum hinübergespielt. Eben kam mit schwerem Tritt der Pillenhändler die Treppe herauf und winkte mit seinem zerschossenen Arm dem Liebespärlein auf dem Futtertrog, sodaß Zacher alle Fassung verlor und aufspringend rief: „Halunk!“ Und die Lise tat auch einen Schrei, weil sie der mit beiden Fäusten um sich fuchtelnde Zacher an die Nase getroffen hatte. Es war aber nicht der Pillenhändler, der mit schwerem Tritt die Treppe heraufkam, sondern der sorgenvolle Ratsherr Michael Böhm. Der sagte: „Ich bins. Fürchtet euch nicht und legt euch nieder. Ich will meinen Abendsegen allein beten.“

Drinnen in der Stube machte sich der Ratsherr Licht. Und draußen in der Stallhalle sagte die Lise: „Möchts sein mit meiner Nase. Aber den Herrn einen „Halunken“ zu schimpfen, Zacher, das ham die Engel im Himmel ghört.“

Zacher kratzte sich hinter dem Ohr und meinte: „Der Herr braucht net grad zu kommn, wenn der Pillenhändler umgeht.“

Er hat sichs auch nie ausstreiten lassen und seinen Enkeln noch von dem Umgehen des ermordeten Pillenhändlers erzählt, und seine Frau hat zuletzt auch daran geglaubt und zur Bekräftigung immer hinzugefügt: Ja doch! Mich hat er mit dem zerschossenen Arm auf die Nasen geschlagen.“

Doch wir wollen unsrer Geschichte nicht vorgreifen. Wenn aber mein geneigter Leser nun meint, sie höre erst auf mit den Enkeln des Zacher, so kann ihm zum Trost gesagt werden, daß es keine Kleinigkeit ist, eine arme Magd unter die Haube zu bringen.

Als der Ratsherr Michael Böhm betete: „Darumb soll sich niemand wegern der Züchtigung des Allmächtigen: denn du verletzest und verbindest, du zerschmeißest, und deine Hand heilet“ – sprengte ein Reiter vorbei. Es war der Herr Schösser Andreas Götz auf seinem Schecken. Er mochte sein Gewissen doch nicht mit der Brüh von dürren Holzapfelschnitzen abfinden und hatte sich in Koburg von einem Arzte ein Medikament für seinen Kranken verschreiben lassen.

Dem Kranken hatte eben sein Wärter, der alte Kaspar, erzählt, was er in seinem Leben schon alles „gesehn“ habe, nämlich von nächtlichem Spuk und Blendwerk. Seinem Kranken zur Beruhigung hatte ers erzählt, weil dieser, als der Alte wiederholt in ihn gedrungen war, doch zu sagen, was ihn plötzlich so krank gemacht habe, endlich angedeutet hatte, daß er Schreckliches gesehen und gehört, Entsetzliches, Teuflisches.

Ja, guter Herr, als ich einmal mitternächtiger Weile von Holzhausen kam – ich hatte meine Nasen noch kaum ins Einundzwanzigste gesteckt und doch schon einen Schatz drübn –, wie gesagt, als ich da durch den Wald geh bei hellem Mondschein, da walzts vor mir den Weg herunter, schwarz und groß wie ein lebendiger Heuschober; und es kommt mir immer näher, daß mir der kalt Schweiß auf die Stirn tritt und ich ruf: Alle guten Geister – da fuhrs auseinander, die Hälft herüber in den Wald und die andre Hälft hinüber in den Wald. Hernach fauchte es in den Büschen, und ich lief vor Angst, daß ich heim kam. Selmal bin ich auch krank wordn. – Alleweil ist der Herr ankommen; er wird Euch ein gut Tränklein mitbringen, Herr Bötzinger!“

Sagt ihm, daß es besser geht, Kaspar! Ich will heut nacht ohne Wächter sein.“

Der Herr Amtsschösser trat ein, stellte eine große Pulle mit Arznei und eine Pillenschachtel auf den Tisch und fragte den Patienten nach seinem Befinden.

Geht besser, Herr Amtsschösser!“ Geht besser, Gott sei Dank!“, kam der Alte zuvor. Und Martin fügte seiner Bestätigung noch den Wunsch hinzu, in dieser Nacht das Schlafen und Wachen ohne Gehilfen besorgen zu dürfen.

Hat Er gegessen?“, fragte der Herr Amtsschösser.

Ein Schüsselchen Suppe; und sie hat mir gut geschmeckt“, entgegnete der Herr Theologus.

Beim Thorbeck habe ich Seinen Vetter, den Meister Örtlein getroffen. Er läßt Ihn grüßen und Ihm sagen, wenns not tät, wollt er seine Sophel zur Pflege schicken.“

So Gott will, gedenke ich morgen ein wenig in den Sonnenschein zu gehen, wenn wir wieder gut Wetter bekommen.“

Von den Pillen da hat Er des Abends drei Stück und des Morgens desgleichen zu nehmen, und von der Arznei stündlich einen Löffel voll, so Er nicht schläft. Und wenns der Herr Informator so haben will, so bist du allhier deines Amtes enthoben, Kaspar! Ich wünsch Ihm gute Ruhe, Herr Bötzinger! Laß Er in Seinem Herzen guten Mut einkehren.“

Bötzinger war zum erstenmal wieder allein; aber er war sich noch nicht gegeben. Eulen und die große Fledermaus stießen auf ihn ein, und der blinde Echter stieß ihn in die Kniekehle. „Da lieg ich als ein Aas, dem Getier preis gegeben!“, seufzte er. „Wie gut sie es auch meinen, die guten Menschen: ich bin ja doch den scharfen Krallen der Vernichtung verfallen. O, wie süß ist es, allein zu sein! Hahaha! Wie köstlich allein bin ich! Da drin, auch tief drin ist alles ausgezogen – herausgerissen, was mir zugesellt war in Liebe! – Ha! – Liebe! – Liebe! – Wer hat den Spott erfunden? Des Herzens Teil ist der Brand der Verachtung, ist das Gift des Hohns! Des verbrannten Weibes Fluch läuft mir auf zwei Beinen nach und bohrt mir einen pechtriefenden Brand vom Scheiterhaufen in die Brust. Ziele doch mit deinem scharfen Pistol dahin, wo du mit dem Scheiterhaufenbrand wühlst, du lustiger, grüngelber, geiler Fluch!“

Der Menschen Leid und Elend, heimlich schleichend unter Sammet und Seide, wütend und verwüstend in jungen Leibern, zerreißend hinter starken Mauern, sich selbst zeugend und gebärend hinter Vorhang und Schleier – unaufgedeckt, ungeahnt: es ist grenzenlos! Und die friedliche, liebe Natur! Wirf dich ihr in die Arme! – Täuschung! Ihr Busen ist seelenlos. Für die geängstigte Seele birgt Heil nur die Siegesmacht einer geläuterten Heldenseele. Und nur, wenn frei von Fluch und Haß, frei von trennendem Egoismus Seele in Seele rinnt, keimet Seligkeit.

Des Mittags Sonne bestrahlt herbstlich schmeichlerisch die Felder und die blauen Schlehen. Und am Festungsberg sitzt hinter dem Schlehenstrauch auf dem Rasen Jungfer Ursula Böhm und singt träumerisch:

 

Ein Ritter stolz des Weges ritt

Und sah des Mägdleins Not.

Für ihre Ehr er tapfer stritt,

Macht End der Not mit Tod.

 

Reich mir die Hand, mein liebes Kind,

Ich will dich treulich wahrn.

Nein, Ritter, ziehet mit dem Wind,

Laßt mich in Frieden fahrn.

 

Das Mägdlein setzt sich in den Wald

Und hub zu weinen an.

Der Wind, der blies sie an so kalt,

Geflogen kam ein Schwan.

 

Der legte Botschaft treu und gut

Dem Mägdlein in den Schoß:

Ach, weine nicht, mein treues Blut,

Mein Sehnen ist gar groß!

 

Da stand das Mägdlein auf gar froh

Und lachte in den Wind.

Aus ihrer Brust der Kummer floh,

Gesund ward sie geschwind.

 

Die Ritter und die fahrnden Leut

Solln mit dem Winde gehn.

Ich küsse meinen Schatz noch heut

Beim frohen Wiedersehn.

 

Jungfer Ursula Böhm hatte nicht bemerkt, daß die Magd von der Festung, mit der sie vor fünf Vierteljahren an derselben Stelle das Brombeerlied gesungen hatte, hinter ihr stand, und schrak zusammen von dem „Guten Morgen!“ des Schalks.

Ihr könnt ja unsre Lieder alle, Jungfer Böhm!“

Das hat mir unsre Lise gelernt. Setz dich zu mir! wir wollens zu zweit singn, das Schwanlied.“

Wenn ich net zu notwendig hätt – gar zu gern. Ich muß ein'n Brief von unserm Herrn zum Superdent tragn.“

Den könnt ich auch mitnehmn, und du könntst mir einen Gefallen tun.“

Der Hauslehrer ist sehr krank, und wenn er amend das Abendmahl ham“ –

Jungfer Ursel sprang in die Höh. Aus ihrem Antlitz war alles Blut gewichen. „Krank? Sehr krank? – O Gott im Himmel!“ Sie sank zusammen und schluchzte und jammerte.

Unser Herr war gestern selbst in Koburg beim Doktor und hat Arznei und Pillen mitgebracht, und das wird ja schon helfen. Steht auf, Jungfer Böhm, und geht mit mir in die Stadt. Was nehmt Ihr Euch des Hauslehrers so an? Was geht Euch denn so nah? Mehr als Vater und Mutter?“

Ursel erhob sich. Sie schlug die Augen nicht auf und nahm die Hand der Magd und drückte sie und sagte kaum vernehmbar: „Du weißts nun doch. Sei verschwiegen, verrat mich net. Der Hauslehrer hat mirs im vorigen Jahr gestehn wolln, als er mir abends begegnete, und ich hab ihn damals mit einem bösen Wort so getroffen, daß er mich gemieden hat. Da hab ich arg gelitten, und ich dacht, ich müßt sterben. Aber seit gestern weiß ich, daß ich ihm selmal unrecht getan hab. Das muß ich wieder gut mach. Und deswegen sollst und mußt du mir einen Gefallen tun, jetzt gleich! Und wenn dus tust, so hilfts amend mehr als die Pillen. Und drum ists notwendiger wie der Brief. Tus! Ah, tus!“ Ein krampfhafter Druck preßte der Magd die arbeitsharte Hand, und es regte sich in dem liederreichen Herzen das Mitleid.

Wenns so steht, so will ichs tun. Sagts nur, Jungfer Böhm!“

Geh schnell zum Hauslehrer und sag ihm: „Die Ursel Böhm läßt Euch sagen, daß sie Euch unrecht getan hat, und bittet um Verzeihung! Merk auf, was er sagt! Lauf, was du kannst! Ich warte da!“

Ursel setzte sich wieder nieder auf den Rasenrand und barg das Antlitz in ihrem Schoß. Aber nach wenig Minuten stand sie wieder auf und eilte der Festung zu. Sie brauchte nicht lange am Tor auf die Magd zu warten und faßte ihre beiden Hände, als sie kam, und flüsterte geisterhaft: „Was sagte er? Geschwind! Was sagte er?“

Aber die Magd zog Ursel mit sich fort des Weges nach der Stadt und sagte leise: „Jungfer Urschel! Ich kanns Euch net sagn.“ Aber Ursel blieb stehen und faßte wieder die beiden Hände der Magd und rief: „Sag mirs, was er gesagt hat. Du mußt es sagen, daß es ein End nimmt. Nun weiß ich doch, daß es Schlimmes ist.“ Ein unheimlicher Glanz ging von den großen blauen Augen aus, und das liederreiche Herz der Magd schauerte zusammen.

Ich wills Euch sagen, Urschel! Aber eins müßt Ihr mir versprech: daß Ihr net wieder querfeldein davon lauft wie im vorigen Jahr, und daß Ihr net alle Hoffnung verliert. Denn morgen, wenn ich ihm Wasser bring, will ichs ihm sagen, wies steht mit Euch. Er sagte – sagte: – Ich kenne keine Ursula Böhmin!“

Da fuhr das schwer geprüfte Mädchen mit beiden Händen nach der Brust. Da drinnen hatte sich ja schon ein Frühling aufgetan nach langem Winter, wenn auch verzagt. Es war ein Blühen erwacht, und es sproßte und trieb zur festlichen Entfaltung, und es begann zu summen und zu schwirren, zu glänzen und zu flimmern; und es hätte nur eines warmen Wortes bedurft, so wäre göttliche Pracht und feierlicher Jubel ausgebrochen. Da kam das eisige Wort der Verleugnung und stürzte den Frühling in den finstern Abgrund, und in der Brust tobte ein verwüstender Sturm und drohte das keusche Gefäß zu zerbrechen.

Die Magd stand regungslos vor der Unglücklichen und wagte nicht, sie anzureden. Ursula legte die rechte Hand an die Stirn, während die linke in der Gegend des Herzens ruhte. So stand sie lange Minuten. Aber es mußte sich endlich ein Entschluß in dieser Seele durchgerungen haben; denn plötzlich neigte sich Ursel zur Magd hin und flüsterte ihr ins Ohr: „Du weißt nun mein Leid; sei stille! Es bleib ein Geheimnis. Und wenn du ihm Wasser bringst, sprich nicht von mir!“

Schweigend gingen beide zur Stadt hinab. Daheim wurde Ursel vom Vater in die Stube gerufen. Der Ratsherr hatte sich mit seiner Ehewirtin dahin verständigt, dem Kinde mitzuteilen, daß der Herr Bötzinger schwer krank sei und der Vater heute nachmittag einen Besuch auf der Festung zu machen gedenke.

Ursel hörte den Vater ruhig an. Dann sagte sie: „Es ist alles vorbei! Der Hauslehrer hat mir jetzt sagen lassen, daß er keine Ursula Böhmin kenne.“

Hat dir der Hauslehrer sagen lassen? Durch wen?“ In der Seele des Ratsherrn brach eine grenzenlose Verwirrung aus.

Ursel antwortete: „Durch die Magd. Ich hatte sie zu ihm geschickt, mir Verzeihung zu erbitten. Wenn Ihr den Hauslehrer besuchen wollt, so sprecht nicht von mir!“ Das hatte Ursel mit kalter Ruhe gesprochen, und dann entfernte sie sich.

Die Verwirrung des Ratsherrn war immer ärger geworden. Er kleidete sich an zum Ausgehen, griff nach dem silberbeschlagnen Rohr und machte sich auf den Weg nach Gompertshausen. Seiner Ehewirtin in der Küche hatte er im Vorbeigehen gesagt: „Ich muß nach Gompertshausen zur lahmen Magd; 's kommt mir vor, als hätt sie auf der Festing kontra gepflügt. Der Bötzinger hat unserm Kind sagen lassen, er kenne keine Ursula Böhmin!“

Die Frau Böhm stand bestürzt vor ihrem Gericht, das sie eben zum Mittagstisch aufzutragen gedacht hatte, und vergaß alles um sich her. „Arm Kind! Arm Kind! Du bist des Jammers Hindin! Ach Gott, erbarm dich unser!“, seufzte sie. Und als ihr einfiel, daß ihr Gemahl ungespeist von dannen gegangen war, rannen ihr Tränen über die blassen Wangen.

Draußen im Gellershäuser Holz gruben sie für den ermordeten Pillenhändler ein Grab. Und weil die Untat eben innerhalb der Gellershäuser Flurgemarkung begangen worden war, so stand der Gellershäuser Schulz dabei und erkannte schon von weitem den Ratsherrn Michael Böhm, obgleich er gar nicht so gravitätisch ging wie sonst, sondern mehr wie ein Metzger, der in Sorge ist, es möchte ihm der fette Ochse weggekauft werden. Der Schultheiß von Gellershausen hatte sich dem Ratsherrn Michael Böhm in den Weg gestellt, ein wenig in breitspurigem Selbstbewußtsein, und grüßte: „Guten Morgen, Herr Böhm! Wohinaus so hastig? Ich laß da ein Loch machen für den Landstreicher. Des Teufels Großmutter wird ihm wohl die Messe lesen für seine Gaunerstreiche. Wenn Er gekommen ist, Herr Böhm, ihn auch noch zu sehen, so komm Er her, obwohl er nicht gut mehr anzusehen ist!“

Hab des nit Verlangens, Herr Schultheiß! Laßt nur das Loch tief genug machen und begrabt alles mit, was um und an ihm hanget. Des mag Franken froh sein. – Hab notwendig, Herr Schultheiß! Adjes!“

Dorf und Stadt!“, brummte der Schulz – „aber der Heldburger Kirchturm ist net viel höher als der Gellershäuser.“

Die lahme Magd in Gompertshausen hatte ihren niedrigen Schemel an ihr Bett gerückt und saß in Gedanken versunken, als an ihrer Stubentür angepocht wurde. Sie fuhr auf. Da stand der Ratsherr Michael Böhm von Heldburg vor ihr mit dem silberbeschlagnen Rohr in der Rechten.

Alle Teufel! Herr Böhm, Er hat sich doch net öpper verirrt? Er sieht weiher aus, als hätt Er zum Superdent gewollt.“

Elsa Geßnerin, Ihr seid mutwillig! Das steht Euch schlecht! Denkt an unser Kind, und daß wir auf Euch viel gehalten habn! Aber Ihr habt kontra gepflügt auf der Festing, und darum komm ich. Ich will doch sehn, ob ich net doch noch zum Herrn Superintendent muß.“

Habs Ihm fei angesehn, Herr Böhm. Der Termin kann anfangn; da bin ich. Liefert mich aus nach Koburg! Die Folter braucht Ihr net bei mir: das fahrend Ding preßt mir alles aus.“

Der Hauslehrer liegt krank drobn; manche sagen, er wär verwundet, manche, es wär ihm in der Nacht im Wald ein Stücklein vom Teufel aufgespielt worden. Und unser Kind ...“

Gelte! Gelte! Ach du Herr Jemerle! Habs Ihm fei angesehn, daß Er ne Beer für mich hat! Die lahm Magd hat den Bötzinger beschrieen, hat sich mit dem Bösen verschworn gegen den Hauslehrer! Hihihi! Wenn Ihr mich nach Koburg schaffen wollt, so laß Er nur Seine Gäul anspann; mei Fritz zerrt mich net in den Turm!“

Geßnerin, Ihr habt ja wohl heut Rohrsperken gegessen? Daß Ihrs gut auf den Zähnen habt, weiß ich ja schon lange; aber heut könnt Eure Zunge Türken spalten. Was Ihr vor etlichen Tagen von der Festing mitgebracht habt, wird heut zum Märlein. Wie geht das zu?“

Sötte Reden! Er ist heut auch net der Ratsherr Michel Böhm von Heldburg. Er redt heut wie der Centgraf. Ich schlag mein'n Fritz net auf die Festung um ein Märlein. Aber heut wollt ich Ihm ein Märlein aufspieln, wenn mir die Unfläter die Urschel net verjagt hättn. Das hätt ein Märlein gegebn, daß der Superdent Amen dazu gesagt hätt; und der Ratsherr hätt gesagt: so führt uns unser Herrgott am Ohr rum. Und wenn ich den Centgrafen da net noch am Ohr auf die Festing führ, so wirds nix.

Was will Er denn bei mir? Wär Er doch auf die Festing gangn!“

Das wollt ich ja! Aber was der Hauslehrer unserm Kind hat sagen lassen, macht Euer Gered zum Märlein und verschließt meiner Ehr das Tor.“

Der Hauslehrer Euerm Kind hat sagen lassen? Ist alleweil die Reih an dem da obn, Stechmucken loszulassen? Mach Ers kurz, Herr Böhm! Es wird mir, als wollt der Festingsberg auf mich falln.“

Ich kenne keine Ursula Böhmin! hat er unserm Kind sagen lassen, als es ihn um Verzeihung bitten ließ.“

Hadu! Hadu! Du liebstes Gottle! Und das soll ich gepflügt habn? Was kann ich dafür, wenn der Hauslehrer übergeschnappt ist? Was fang ich an? Was fang ich an? – Wenn ich denk, ich hätt dem Elend ein End gemacht, kommts wieder lustig angesprengt und reit mich übern Haufen! Ich will mich nix mehr drum bekümmern, gar nix mehr! Dös giet mr dn Rest!“

Elsa sank nieder auf ihren Schemel und schluchzte wie ein Kind.

Der Ratsherr Michael Böhm stand stocksteif da und starrte die weinende Magd an. „Ich will gehn, Elsa!“, sagte er; „so wars net gemeint. Ihr wißt nun, wie es steht. Überlegts Euch, was zu tun ist! Adjes!“