Neunzehntes Kapitel
Marschall Schweigmund von Unfind
Im Jahre 1624 stand die europäische Politik ohngefähr auf dem Fuße des Flickschneiders von Römhild, wenn er sagte: „Wers kann, dem kommts.“
Der geächtete Pfalzgraf Friedrich, der vertriebne Böhmenkönig, hatte in seiner
stolzen Borniertheit alles verscherzt; die Truppen Mansfelds und des Halberstädter Christian waren zerstreut; Herzog Wilhelm von Weimar saß gefangen in Neustadt; den Landgrafen von Kassel und den
Herzog von Braunschweig hatte Tillys eiserne Faust erschreckt; am 8. Mai waren die Friedensverhandlungen zwischen dem Siebenbürger Bethlen und dem Kaiser zum Abschluß gekommen; Richelieu, der
neue Minister des jungen Franzosenkönigs, begann Frankreichs dominierende Rolle einzuleiten, wurde aber von den deutschen Fürsten vorerst zurückgewiesen; Jakob von England, der geizige und
zaudernde Schwiegervater des Pfalzgrafen, begann endlich auch maßgebend werden zu wollen, schloß ein Bündnis mit Holland und suchte durch seinen Ritter Anstruther Dänemark und mehrere deutsche
Fürsten dafür zu gewinnen; der Kurfürst Georg Wilhelm von Brandenburg trat aus seiner bisherigen Zurückhaltung heraus und ordnete seinen Rat Bellin ab an Christian IV. von Dänemark, Gustav Adolf
von Schweden und an den Prinzen von Oranien im Haag; in Rom hoffte man auf die Bekehrung des Kurfürsten von Sachsen; der Papst Urban VI. dachte daran, den Kirchenstaat durch Befestigungen zu
sichern, durch eigne Waffen furchtbar zu machen, und entwarf Fortifikationspläne; dem Kaiser fehlte es an Mitteln: jeder Einzelne konnte nichts Rechtes, prahlte aber doch im europäischen Rat:
"Wers kann, dem kommts!"
Und die entlassenen, unbezahlten, zerlumpten Truppen trieben sich herum als „Schnapphähne“ die Heerstraßen entlang.
Es ist diese Spezies zwar noch nicht ausgestorben, streunert aber nicht mehr rudelweise wie Wölfe durch das Land. Der ehrliche Mann, der sogenannte Dumme, ist freilich den modernen Schnapphähnen gegenüber schlimmer dran, als es die Bauern im dreißigjährigen Kriege vor den verwolften waren: Sense, Mistgabel und Dreschflegel – wenn die Masse im richtigen Verhältnis stand – hielten schon das ungezieferbehaftete Kriegsgesindel im Schach. Abgelegne kleinere Orte waren freilich übel beraten, wenn sie heimgesucht wurden von den Unglücklichen, die von Fürsten und Marschällen unbezahlt entlassen und in Hunger und Elend hinausgestoßen worden waren.
Am Nordgelände des Steigerwaldes ritten zwei stattliche Reiter in der mittägigen Sonnenglut dem Zabelstein zu. Der nachreitende, jüngere von ihnen, mit Vollbart, einen Fuchsschwanz auf dem breitkrempigen Hut, der ein grünes, seideverbrämtes Wams mit Schlitzärmeln beschattete, ritt einen statiösen Fuchs, schien aber dem Temperament nach mit seinem Fuchs in Disharmonie zu stehen, denn der Fuchs trug seinen Kopf mit Mutwillen hoch, und sein Herr ließ den seinen hängen. Aber dieser hängende Kopf war schön und floß in den feinen Gesichtszügen über von Melancholie.
Der vordere, ältere Reiter, auf einem Rappen, sah gleichgiltig in die Welt hinein. Große, schwarze Locken hingen ihm im Nacken, und sein schwarzer Kinnbart schien einer gewissenhaften viereckigen Pflege verfallen zu sein.
Das sind nicht vom Krieg ausgestoßene Schnapphähne, sie wollen erst in den Krieg ziehen, der aber zum Leidwesen des Jüngern jetzt stille steht, freilich nur, um sich ein wenig zu verpusten und später mit mehr Vehemenz auszuschreiten.
Vor ihnen lag das Gebirge, wo sie vor acht Jahren daheim gewesen waren und mit einem Häuflein Kameraden den jungen Gelehrten Martin Bötzinger durch die Fama mit Furcht und Entsetzen erfüllt hatten. An einer lieblichen kleinen Blöße am Zabelstein angelangt, saßen die Reiter ab. Hans, der ehemalige Spitzbubenmarschall, patschte seinem Fuchs den Hals und sagte: „Mein liebes Löwengold“ – so nannte er ihn mit Anspielung auf den Rudolstädter Löwenwirt –, „wann wirst du mich zu Ehren tragen! Da steht hohes Gras, laß dirs schmecken!“ Dann wandte er sich an seinen ehemaligen Schatzmeister und sagte: „Hinz, nun wache ein Stündchen! Ich will ein wenig schlafen.“ Und im Schatten einer mächtigen Eiche wurde der junge Reiter bald von einem freundlichen Traum in die Heimat und in die Jugendzeit getragen an die Seite seines Gespielen Martin: sie tranken Milch mit einander, die die Mutter freundlich reichte, und fingen dann vergnügt Hummeln und Schmetterlinge im rotblühenden Klee.
Das Löwengold und sein schwarzer Kamerad hingen wie treue Hunde an ihrem Herrn; sie tummelten sich ledig auf der reichbegrasten Blöße, aßten sich und spielten mit einander, ohne sich weit zu entfernen. Der umherschlendernde Hinz entdeckte auf einer jungen Fichte, die in dem Laubwald wie im Traume verloren da stand, ein Drosselnest mit flüggen Jungen. Er holte sich diese herunter, tötete und rupfte sie; dann zog er durch die Nasenlöcher der fünf Schnäbel einen Draht und verband diese beiden Enden. Bald loderte ein Feuerchen auf. Hinz schnitt sich einen Buchenstock, spaltete das eine Ende, schob den Drahtring mit den Vogelleichen in den Spalt und ließ sie dann in der Flamme spielen. Diese wunderliche Bereitung eines Mittagsmahles war dem Hinz geläufig. Er holte dann ein Stück Brot aus seiner Ledertasche und ließ sichs schmecken. Als er sich eben den Bart gewischt hatte, erhob sich sein Herr und Gebieter und sagte zu ihm: „Hinz, einen Trunk aus der Quelle dahinten!“ Hinz entfernte sich mit den Feldflaschen. „Mache einen Tümpfel, daß hernach die Pferde saufen können!“, rief Hans dem Hinz nach, und dann schnalzte er mit der Zunge. Sofort warf das grasende Löwengold den Kopf in die Höh und eilte herbei. Der Rappe richtete sich auch auf und wieherte, blieb aber sehen. „Ei, Schwarzhenne“ – er stammte aus dem Hennebergischen –, „trotzest du deinem Herrn?“, rief Hans. Da kam in großen Sätzen auch die Stute herzu. Nun spielte Hans mit seinen treuen Tieren wie mit Kindern. Hinz blieb lange aus, sodaß Hans unruhig wurde und seine Pferde von sich wies. Er setzte sich auf einen Steinblock, drehte spielend seinen Degen über den Knien und seufzte: „Was solls werden? Der Geldbeutel wird nur noch geöffnet zum Ausgeben, nicht mehr zum Einnehmen; die Werbetrommel schweigt, der Krieg scheint faul. Ins Elend zurückkehren zu den Unehrlichen? Nimmermehr! O unselige Rachetat! Laß die Bötzinger ungeschorn! Ach, wär mir dieser Ruf als ein Donnerkeil in die Knochen gefahren, als ich ihn am Wasser stehen sah! – Stand ich nicht schon auf der Leiter zu Ehre und Ruhm? Ob auch nur auf der untersten Sprosse: der Herzog hatte seinen Gefallen an mir. O, ich Elender! – Er war so gnädig gegen mich! Ich will meinen Weg zu ihm lenken; ich will ihn auf den Knien anflehen um Gnade. Daß er mich doch noch einmal auf die unterste Sprosse stellte!“
Da kam Hinz atemlos durch den Wald hergestürzt. Hans sprang auf.
„Herr, dahinten liegt ein Haufen Fußvolks, zerlumpt und verlaust! Die große Hitze scheint ihr Ungeziefer rebellisch gemacht zu haben; die meisten suchen und säubern; manche haben ihre Lumpen im Bach ausgewaschen, an Bäume gehängt und sich nackt ins Gras gelegt. Es ist Zwiespalt unter ihnen: eine Partei will heut plündern oder brandschatzen, die andre morgen; die eine Partei will in Oberschwappach anfangen, die andre in Unterschwappach. Als sie sich so stritten, erhob sich ein Kerl wie der Riese Goliath aus dem Gras und rief: In Unterschwappach wird angefangen; das ist ein fetter Bissen! Kenn das! Müßt net in Unterschwappach gewesen sein, wo meine Mutter mit ihrem Bubn die Gäns ghüt hat!“
„Wieviel sinds der Strolche?“, fragte Hans.
„Können ihrer fünfzig bis sechzig sein.“
„Will mir den Haufen einmal anschaun.“
Hans schlich davon, und Hinz setzte sich auf den Steinblock und murmelte in seinen viereckigen Bart hinein: „Geh nur hin! 'S sind keine Leut für dich. Da war unser Kapitel anders bestellt. Aus ists! Nix ists! Alles vorbei! – Warn schöne Zeiten! – Träumt von Ehren! Wird nit wieder so geehrt werden wie von uns. Was das werden soll? Reiten spaziern in der Welt rum und verzehrns Geld in den Wirtsshäusern. – Nun sollts nix sein, wenn wir zum Pfalzgrafen kommn! – Der Mansfeld wär mir lieber. – Mich müssen sie an die Kanonen stelln! – Wo ich mittun soll, muß es große Löcher gebn! – Das Konstabliern is mei Sach!“
Als Hans wieder zurückkam, war die Melancholie gewichen, und der Schatten des Trotzes verdüsterte sein Gesicht. „Auf Hinz!“, rief er, „hier ist der Auswurf des Krieges angeflogen – das Elend und die Schande stinken durch den Wald, wir reiten nach Unterschwappach, vielleicht gibts da Gelegenheit zu meinem ersten guten Werk.“
„Herr, Ihr habt noch nichts gegessen.“
„Keine Zeit dazu! – Nach Unterschwappach!“
In Unterschwappach saß der Schloßherr, ein Herr von Schaumberg, mit einer schwarzgekleideten Dame unter einer alten Linde vor dem Schloßtor. Obwohl angehende Vierzigerin und von hoher, voller Gestalt, mußte sich die Dame gefallen lassen, daß sie der Herr von Schaumberg sein Bäsle nannte. Er kneipte sie in den Backen und sagte: „Liebholdes Bäsle, erschrick nit! Ich muß von alten Dingen mit dir reden. Du hast mir verwichen gesagt, warum du dich nur schwarz kleidest. Ich hab was auf dem Herzen und was in der Tasche, darüber du rot werden wirst bis hinter die Ohrn – nit vor Scham, bewahre Gott! Und wenn ich mich nit verrechn, wirst du dich bald rot kleiden, so wahr ich Herr von Unterschwappach bin!“
„Herr Vetter, Ihr habt wohl heut ein Kännlein oder zwei mehr als sonst getrunken?“
„Das nit, mein Bäsle! Aber ich bin von dem, was ich weiß, und dem in der Tasche trunken, und es wird dich auch noch trunken machen.“
„Einmal war ich trunken, Vetter! Ihr wißts: vor mehr als zwanzig Jahren! Ich werde nimmermehr trunken werden!“
„Bäsle, sei fein still! – Vor mehr als zwanzig Jahren wars; davon wollt ich dir eben erzählen!“
„Ihr mir erzählen!“ – Das langwimprige Auge flammte. „Soll ich nimmer zur Ruhe kommen? Mein Geschick verfolgt mich in die einsamsten Winkel. – Nun auch Ihr, mein Vetter, mir aufs Herz tretet, muß ich verzweifeln. Ihr wart meine letzte Zuflucht. Herr Jesus, Herr Christus, erbarm dich deiner armen Magd!“
Die Dame war aufgestanden und wollte sich entfernen. Der Herr von Schaumberg aber führte sie sanft zurück und sagte, indem er sie auf die Steinbank unter der Linde niederzog: „Sei nit unwirsch, lieb Bäsle! Ein neu glücklich Leben will dir aufgehn, so wahr ich Herr von Unterschwappach bin! Der Bote hat gestern drei Briefe gebracht, einen für mich, zwei für dich. Ich hab die Nacht nit viel geschlafen, Bäsle; bin alt und abgestorben für lustige Jugendstücklein, aber die Briefe haben mir fröhliche Unruh in die Adern gebracht!“
„Liebwerter Vetter! Ich bitt Euch um Verzeihung wegen meiner raschen Rede. Ihr waret ja immer gut. So gebt heraus die Briefe und sagt, was Ihr wißt. Mich kann nichts erschrecken. Vor der Welt ledig, im Herzen verwittibt: ich werds bleiben! Mir kann nichts erblühn, mir kann nur verwelken!“
„Das ists ja, Bäsle! was mir den Schlaf scheuchte. Es wird dir die Trauer fressen. Horch zu! In Rudolstadt der Jägermeister Eckhold –“
„Gehn Eure Briefe von ihm, Herr Vetter?“, rief in größter Erregung die Dame.
„Horch zu, mein Bäsle! So wahr ich Herr von Unterschwappach bin – steckt der unbändige Adelstolz nit noch in dir –, du wirst in diesem Sommer noch als Jägermeisterin aus dem Kirchlein hier treten.“
Die Dame verbarg eine Zeit lang das Antlitz hinter ihren weißen Händen.
„Daß dich die Briefe nit erschrecken, mußt ichs sagen. Nun sing und spiel in deinem Herzen, bist du ein Weibsbild, wie sichs gehört! – Horch zu! Der Jägermeister Eckhold hat lang genug Respekt vor unserm Adelstolz gehabt. Doch sein Respekt hat endlich vor dem Regiment seines Verstandes und Herzens weichen müssen: er machte sich auf nach Rauenstein zum Burgvogt und hat zu ihm gesagt: Herr Burgvogt, wir warn Narrn, Er und ich und Seine Tochter und – alle warn wir Narrn! Und nun hats ein End mit der Narrheit! Wo ist Seine Tochter Erdmute mit ihrer Tochter Susanna? Nun hörts auf mit der Narrheit. Zwanzig Jahr hab ich mirs gefalln lassen, hab geschmollt mit der Welt und bin alt darüber worden. Aber das Schmolln hat nun ein End! Ich will die Erdmute ehelichen, gieb Er Seinen Segen! – So hat der Jägermeister zum Burgvogt gesagt – so stehts in meinem Brief – und hat ihm auch noch einen Brief vom Reichsgrafen Günther überreicht. Und darauf hat dein Vater den Brief an mich geschrieben und mir darin alles erzählt, und daß er Ja gesagt hat, und einen Brief an dich, und der Jägermeister hat auch einen an dich geschrieben; das sind die drei Briefe. Da hast du die deinen. Wenn du fertig bist mit Lesen, komm ich wieder.“
Der Herr von Schaumberg ging ins Schloß.
Lange starrte die Dame die vor ihr auf dem Steintisch liegenden Briefe an. Es waren nicht gewichtlose Blättchen, wie sie heutzutage millionenweise von Ort zu Ort flattern. Diese paketartigen Stücke waren ihrem Inhalt entsprechend. So ein Liebesbrief, der als das Resultat eines Lebensabschnitts von einundzwanzig Jahren in die Welt geht, sticht von dem parfümierten Billet unsrer Tage ab, wie ein Kruppsches Geschütz von der Sonneberger Weihnachtsflinte: er schlägt dicke Panzer von Eisen und Stahl durch, zerreißt alte, verfilzte Vorurteile wie Spinngewebe.
Die Dame prüfte die Siegel; das eine war grün, das andre rot. Ihre weißen Finger zitterten, die Brust wogte. „Was stürzt da auf mich herein!“, seufzte sie. „Auf ein Weib, dieses schwache Gemächte, will das Schicksal einen Berg der Freude und des Glücks abladen! – An die Last des Fluches haben sich diese Schultern gewöhnt! Dieses Herz ist zerrissen! Das einzige, mit Hingebung und Liebe mir ans Leben geheftete Wesen, mein eignes Abbild, senkt mir mit jedem Wort, mit jedem Blick einen Stachel ins Herz! – Dieses Herz soll genesen? Ich soll diesem Wesen sagen: Du bist meine wirkliche, leibliche Tochter? – Oder soll ich mich zu jenem Manne bekennen und den liebsten Teil meines Lebens von mir stoßen? Oder sollen die Eltern ihr Kind, das mit ihnen an einem Tische sitzt, verleugnen? Sollen die Eltern dem Kinde als Sünder beichten? O Jesus, Jesus! Hilf deiner armen Magd! Soll unsre heimliche Vermählung noch offenkundig werden? – Wohlan! Mut! Mut!“
Sie öffnete den Brief mit dem grünen Siegel und las: „Teure Erdmute! – Wir waren Narren! Nun sitz ich über zwanzig Jahre als ein verfluchter Adam in dieser erbärmlichen Welt, von der nur ein kleines Stücklein schön ist, darauf ich sitze. Das ist Rudolstadt mit seinen schönen Bergen und Gründen, das Paradies. Aber die Eva, die mir unser Herrgott zugewiesen, hat mir der dumme Adelstolz vertrieben! Höre, die Geschlechter vergehen, wie der Reif vor der Sonne. Und ich will kein verfluchter Adam mehr, und du sollst keine vertriebne Eva mehr sein. Du bist und bleibst dem Jägermeister Eckhold seine Erdmute. Und wer in der Welt kann das ändern, wenn dus zufrieden bist? Bin ich nicht dein Gemahl? Leugne es, wenn du kannst! Du weißts ja so gut wie ich, und: was Gott zusammengefügt hat, soll der Mensch nicht scheiden! hat selmal der Pfarrer von Ranis gesagt, als er das Kreuz über uns gemacht hat hinten im Eckzimmer – heimlich! auf dem Brandenstein. – Den Vermählungs- und Ehebrief habe ich hinter eisernem Riegel in eisernem Kasten; da hilft alles nichts! Und nun stelle ich mich vor dich hin, meine allerliebste Erdmute, ich bin noch ein ganz schöner, frischer Kerl, da hilft alles nichts! Und du – du bleibst, wer du bist! Und wenn du lahm geworden wärst und taub und hättest keinen Zahn mehr: du bleibst dem Landjägermeister Eckholden seine Erdmute! Wer jetzt noch mit mir um dich streiten will, dem hau ich die Tatzen ab, wie der Pfalzgraf Ehrenfried zu Aachen weiland dem großen Bären in der Saalfeldischen Provinz die Tatzen abgehauen und ihn hernach mit dem Jagdspieß zu Boden gestrecket! Da hilft alles nichts! Ich bin hierher nach Rauenstein gereiset und hab deinem Vater, dem Burgvogt, gesagt: Die Narrheit muß aufhörn! – Ich bin der Landjägermeister Eckhold von Rudolstadt und will Seine Erdmute zur Frau haben. Da hat der alte Haudegen die Augen aufgerissen und das Maul aufgesperrt. Ja! sagt ich, wir warn alle Narrn! Die Geschlechter vergehn wie Gras, auch das Eure wird vergehn, denn vor dem Sturmodem des Herrgotts hilft kein Adelstolz! Da hilft alles nichts! Und der Herr Burgvogt mags auch spüren, daß es mit denen von Schaumberg nicht mehr bestellt ist, wie ehedem, und daß zu viel den Sack zerreißt. – Als ich ihm sagte: Da Adam den Acker bauete und Eva spann, wer was da ein Edelmann? setzte er sich in seinen großen Polsterstuhl und drückte die Augen zu. Hernachen gab ich ihm den Brief von meinem Herrn, dem Reichsgrafen Günther. Und wie er den las, riß er die Augen gewaltig auf; und als er ihn gelesen hatte, stand er auf und schüttelte mir die Hand und sagte: „Sei Er willkommen auf Rauenstein! – Wußte nicht, daß Er so ein braver Mann ist; Er soll die Erdmute kriegen. Der Graf will dafür sorgen, daß Er in den Adelstand erhoben wird: bon! – Wenn nix draus wird, schadts auch nix!“ „Bon!“, rief ich da auch. Nun haben wir uns recht schön zusammengebissen. Aber von unsrer heimlichen Ehe hab ich ihm nichts gesagt, daß der dumme Groll nicht wieder erwacht; bin froh, daß ich ihn aus dem Felde geschlagen habe. Nun komm ich nach Unterfranken und hol meine allerliebste Erdmute mit unsrer Susanna, und der Alte in Rauenstein denkt, wir würden dorten erst vermählt. Er hat an den Unterschwappacher Vetter geschrieben, er solle nur nichts sparen zur Hochzeit. Aber dem Vetter will ichs schon selbst sagen, wie der Has läuft, wenn ich komm. Und wenn wir in unser Paradies kommen, soll die Susanna den Ehebrief sehen, daß die Ehre der Alten vor dem Kind unbeschädigt bleibe. – Und mit den Rudolstädtern? Mit denen werd ich schon fertig. Hat sich doch der Löwenwirt seinen Hengst unter den Beinen wegstehlen und sich hernach auf eine Brunnröhre binden lassen. Bon! sagt der Burgvogt, dem Jägermeister sein Schwäher. Aber um eins ist es mir nicht ganz einerlei, nämlich, wie ich mich anstellen werde, wenn ich meinem allerliebsten Schatz nach so vielen Jahren wieder ein Schmätzle geben soll. Mags geraten, wie es will, du weißt doch, wie es gemeint ist. – Ich muß aber erst wieder nach Haus und meinem Herrn Bescheid sagen und alles zur Ordnung bestellen, ehe ich diese große Reise tue. Bleib nur hübsch dort in Unterschwappach, ich hol dich! Da hilft alles nichts! Wenn ich nach Haus komm, steig ich auf den Schloßturm und rufe zum obersten Loch hinaus in unser Paradies hinein: Viktoria! Und der Konstabler unten kann die Stück dazu lösen. Höre, noch eins! Wenn uns der allmächtige Herrgott noch ein Kindlein bescheren sollt – oder meinetwegen noch etliche –, so weiß ich, wer Gevatter werden muß. Das ist der, der vorigen Herbst bei mir zu Besuch war, und der mir auf der Bildergalerie bei meinem Vogelherd meinen alten Brandensteiner Jugendhimmel rebellisch gemacht hat, daß ich seitdem Tag und Nacht an dich denken mußt und an unsre Susanna. Und die Sehnsucht wurde so groß, daß ich alleweil den Rauenstein mitsamt dem Burgvogt erstürmt und erobert hab. Siehst du, so ists gekommen. Aber mit unserm Gevatter hab ich noch was ganz extraes vor; davon kann ich dir aber jetzt nicht schreiben. Das muß ich dir in unserm geheimen Kabinett erzählen, wenn du bei mir auf dem Schloß wohnst. Nachher kannst du meinetwegen ein Buch schreiben, dahinein alle unsre Trübsal, Heimlichkeit und Glück kommen. Aber nun muß ich aufhören, denn dem Burgvogt seine Briefe sind fertig, und der Bote wird nun auch bereit sein. Warts nur ab; ich hol dich! Da hilft alles nichts. Bleib hübsch gesund! Du wirst dich freuen, wenn du mich siehst; denn ich bin noch ein ganz charmanter Kerl, hat mir noch kein Zahn weh gethan. Punktum!
Ehre sei Gott in der Höhe,
Und Frieden auf Erden!
Dein
treuer Eckhold“
Öfter legte die Dame den Brief aus den Händen. Zuweilen rollten Tränen über das edle Antlitz, zuweilen ward es verklärt vom Schimmer eines Lächelns. Als sie die Stelle von der Sehnsuchterweckung auf der Bildergalerie las, schlüpfte über ihre Lippen als ein Seufzer der Ausruf: „Martin Bötzinger!“
Sie preßte leidenschaftlich die Lippen auf die Unterschrift des Briefes mit dem grünen Siegel, faltete ihn zusammen und legte ihn neben den ungeöffneten mit dem roten Siegel. Ihr Blick schweifte über den Wald hin in die Ferne, und die Strahlen frommen Glücks und tiefster Sehnsucht brachen unter den langen Wimpern hervor.
Der Herr Vetter lehnte bereits am Thor und betrachtete still in kindlicher Freude sein Bäsle.
Plötzlich sprang die Dame auf und griff nach ihren Briefen, und der Herr von Schaumberg richtete sich strack und schritt hinaus vor das Tor; denn es näherten sich eben zwei seltsame Reiter auf prächtigen Rossen.
Schon war Hans von seinem Löwengold gesprungen und stand vor dem Herrn von Schaumberg und sprach ihn an: „Gnädiger Herr! Es ist mir vergönnt, Ihm wichtige Mitteilung zu machen. Vielleicht wäre es aber gut, wenn sie einstweilen der Dame da vorenthalten bliebe.“
Die Dame hatte die Rede verstanden und verschwand durch das Tor.
„Drüben am Zabelstein liegt eine wüste Horde – Schnapphähne, Herr! Wir sind zufällig auf sie gestoßen und haben sie belauscht. Morgen wollen sie Unterschwappach plündern. Ein langer Kerl hat das Schloß hier einen fetten Bissen genannt, seine Mutter hätte die Gäns da gehütet.“
„Der lange Christophel!“, sagte der Herr von Schaumberg. „Spukt der wieder in Franken? Freilich seht Ihr nit aus wie des langen Christophels Spion, aber ich möchte doch wissen, wie ich und mein Haus sich zu Euch zu stellen hätten: wie ist Euer Name, und wo seid Ihr daheim?“
„Schweigmund ist mein Name, Unfind meine Heimat.“
„Meint Ihr das Unfinden in der schönen Au da bei Königsberg, so wärt Ihr nit allzuweit her.“
„Mein Unfind findet Ihr nit.“
„Was ist Eures Tuns und Treibens, Herr?“
„Ein Ritter bin ich nit, doch auch kein Schalk. Ich such den Krieg, doch der schläft. Möcht gern der Welt nützen, aber find nit recht ne Handhabe. Wenn sichs mir aber schickt, was Guts zu stiften, so säum ich nit. Der gute Wille hat mich her zu Euch geführt. Habt Ihr Besatzung in Euerm Schloß, so teilt nur Pulver und Kugeln aus und macht die Säbel scharf und Euer Tor hübsch fest; denn morgen wird man Euch berennen. Und nun lebt wohl und trefft der Kerle Schädel morgen gut! Ade!“
„Nur nit zu knapp, mein junger Herr! Sitzt noch nit auf! Den Krieg sucht Ihr? Da fehlts Euch nit an Mut. Gutes wollt Ihr wirken: hier ist Gelegenheit. Ich will Euch trauen. Zieht ein und helft mir morgen die Brandschatzer abwehren. Wollt Ihr nit helfen, bin ich für den guten Willen heut doch schuldig, Euch mein Haus zu öffnen. Solch Rößlein, wie das Eure da, wächst nit, wo Brennesseln wachsen; und der Rapp dort ist auch nit zu verachten und der Mann darauf. – Besatzung, Herr? Besatzung gibt es nit. Dies Fähnlein Reiter da, das wärs, möchtet Ihr einziehn. – Wieviel der Schnapphähne sinds denn wohl?“
„Fünfzig bis sechzig. Es gibt zu tun. Doch wenn die Zeit in Acht genommen wird bis morgen, so ließe sich Euer Schloß ganz schön zur Festung wandeln. Nehmt Ihr uns an, so soll der Kriegsrat gleich beginnen. Sollts nit bereun, wollt Ihr mir traun. Und für den Mann da auf dem Rappen steh ich.“
Die Fremden folgten dem Schloßherrn. Als sie über den Hof schritten, wandte sich Hans an den Herrn von Schaumberg: „Dort an dem Stadeltor ist eine Eule angenagelt; erlaubt Ihrs, so schieß ich ihr den rechten Fang ab, damit Ihr seht, daß ich zu treffen weiß.“
Es krachte, und der alte Herr konnte sich überzeugen, daß der Herr Schweigmund von Unfind kein Flunkerer war.
Eh der Schütze von der Stelle ging, lud er erst sein Pistol.
„Hätt Zeit gehabt“, sagte der Herr von Schaumberg.
„Bins so gewohnt“, erwiderte Schweigmund von Unfind und wandte sich an Hinz: „Bring die Pferde an Ort, dann wirst du in der Küche wohl was finden. –Gnädiger Herr, das Mittagsessen hab ich durch meinen Ritt zu Euch versäumt. Gönnt mir erst einen Imbiß; dann zum Werk!“
Wie von ungefähr, als wollte er sich das Schloß besehen, blieb Schweigmund von Unfind stehen. Aber sein Auge hing an einem Fensterlein, aus dem ein schöner Mädchenkopf leuchtete, den der Schuß angelockt hatte. Der Kopf hätte sich gern vor diesen Augen wieder verborgen, aber er hing mit einer Locke an einem umgebognen Fensterblei und mußte stille halten.
Der Schloßherr war vorausgegangen, um in der Küche die nötigen Befehle zu erteilen.
Schweigmund von Unfind aber betrachtete das Schloß, als ob ihm gewichtige strategische Gedanken durch den Kopf gingen. Da stieß ihn Hinz an, der von den Pferden kam, und sagte: „Herr Marschall! habt Ihr noch keinen Hunger?“
„Schweig, Hinz! Von heut an heiß ich Schweigmund von Unfind!“
Das hatte eine Magd gehört, die aus dem Keller kam. Sie wußte nun das Allerneueste, und bald schwirrte es von Mund zu Ohr im Schloß herum: „Marschall Shweigmund von Unfind! Marschall Schweigmund von Unfind!“
Der Herr von Schaumberg führte den Marschall Schweigmund von Unfind und seinen Diener auf sein Zimmer. „Machts euch bequem, ihr Herrn! Da kommt ja schon ein Trünklein; so recht, mein Junge!“, sagte der Schloßherr. Ein Bursche in gelben Strümpfen und einem abgetragnen, von seinem Herrn auf ihn übergegangnen blauen Plüschrock, für ihn von allzu großer Bequemlichkeit, trat eben ein mit drei Bechern in der Linken und einem schweren Krug in der Rechten.
„Den heißen Tagen trotzt mein Keller. Trinkt und sagt, ob er nit viel zu gut sei für den langen Christophel mit seiner Kompagnie! Die Küche wird ja auch nit allzu lang auf sich warten lassen.“
Hinz strich sich schmunzelnd seinen viereckigen Bart, und Schweigmund von Unfind bemerkte, als er getrunken hatte: „Der Wein und alles andre in diesem Haus ist viel zu gut für Raubgesindel. – Wie steht es mit den Waffen, Herr? Habt Ihr auch Pulver und Blei zu einem rechtschaffnen Kampf bereit?“
„Das nit; doch der Waffen sind etliche da: ein Türkensäbel, etliche alte Schwerter, unterschiedliche Degen und Spieße, drei Jagdgewehre, sechs Musketen, zwei lederne Kanonen? – Eine Nachtigall und eine Singerin – und endlich ein Orgelgeschütz, so mein Stolz ist.“
„So schickt nur gleich nach Haßfurt, laßt Pulver und Blei und noch ein halb Dutzend Schußwaffen holen. Das Kugelgießen besorgt heut nacht mein Hinz mit Euerm Diener.“
„Soll geschehn!“, rief lebhaft der Schloßherr und entfernte sich.
Hinz schenkte ein und wandte sich gutes Mutes an seinen Herrn: „Fragt doch einmal, wenn der Herr von Schaumberg wieder kommt, ob ich in diesem Krieg net den Konstabler machen könnt?“
„So schnell kannst du nicht avancieren, Hinz! Bring ich bei einiger Machtentfaltung die Kerle nit im Guten zum Abzug, so hast du nur für mich zu laden und auch der Bursch im blauen Rock, damit ich fleißig schießen kann, wenns die Rekognozierung nit anders erheischt.“
Zum eintretenden Schloßherrn sagte Schweigmund von Unfind: „Nun laßt nur gleich die Söldner und Bauern auf das Schloß entbieten, damit sie instruieret werden! Wir müssen einige Macht entfalten; vielleicht ists möglich, das Soldatenblut zu schonen.“
Der alte Herr nickte beistimmend und entfernte sich, die Söldner und Bauern entbieten zu lassen.
Nachdem die Mahlzeit eingenommen war, setzte Marschall Schweigmund von Unfind seine strategischen Anordnungen eifrig fort. Er freute sich über das Kriegsgenie, das ihn regierte, und nach wenig Stunden schon hatte der Herr von Schaumberg großen Respekt vor dem Marschall Schweigmund von Unfind.
Gruppenweis kamen gegen Abend die aufgebotnen Mannen angezogen, teils in Holzschuhen, teils barfuß, und stellten sich bedächtig im Schloßhofe auf. Der Herr von Schaumberg hatte sie da, auf- und abgehend, erwartet. Seine Sporen klirrten bei jedem Tritt. Wenn er auch schon ein hoher Sechziger war, er spielte heut einmal den stolzen Ritter. Das dunkle, etwas blatternarbige Gesicht mit wohlgepflegtem Knebel- und langem, spitzem Kinnbart stach seltsam ab von dem breiten, weißen, reich mit Spitzen besetzten Kragen. Eine pompöse Schärpe wucherte in gewaltiger Schleife am Degengriff. Zu der Rechten führte er ein spanisches Rohr mit goldnem Griff. Und wenn die Sporen klirrten, nickte die große Feder auf dem breitkrempigen Hute. Schweigmund von Unfind war ihm zur Seite.
„Ihr werdets euch nit denken können, aus wes Ursach ich euch hieher hab entbieten lassen. Wenn euch der Schuh drückt, helf ich euch; das wißt ihr. Nun hört, was ich von euch will! Drüben am Zabelstein liegt ein Haufen Soldateska, bar des Soldes, Der Herr da hats erlauscht, daß sie mir morgen das Schloß ausflönen will.“
Die Bauern fingen an zu murmeln und zu fluchen, und etliche von ihnen riefen: „Habn ihrn Rauch schon lang gesehn!“
„Ich brauch von euch nur zehn Mann im Schloß. Die übrigen mit ihren Söhnen und Knechten halten das Dorf. Fangen sie bei euch an, kommen wir euch aus dem Schloß zu Hilfe, berennen sie zuerst das Schloß, so solln sie unsre blauen Bohnen zu kosten bekommen, und ihr fallt ihnen derweil mit Mistgabeln, Sensen und Dreschflegeln in den Rücken. Ich hoff, wir weisen dem Gesindel bald den Weg. Die zehn Mann müssen sich heut abend schon stellen; beratet euch, wers sein soll. Die andern gehn nach Haus und rüsten sich. Gerät der Handel, so werd ich euch einen lustigen Tag bereiten.“
Während dieses Appells lugte wieder der Mädchenkopf aus dem Fenster mit dem umgebognen Blei, und das Kriegsgenie des Marschalls Schweigmund von Unfind ward wieder stark impulsiert.
Auf dem Schloßhof, an der Mauer und in den Schuppen lagen die Männer mit Eifer und besorgten Mienen der Rüstung zur Abwehr der Schnapphähne ob, schnitzten, zimmerten, sägten, bohrten und nagelten. Und das ins Kriegsgenie gefallne Mädchen saß bei der schwarzgekleideten Dame im kühlen Zimmer. Da ward auch Rats gepflogen. Man konnte nicht darüber schlüssig werden, ob man den fremden Reitern ein Schlafzimmer zur Gemeinschaft anzuweisen, oder ob man einen Unterschied zwischen ihnen zu machen habe. Aber der Mädchenkopf wußte sich endlich durchzusetzen: Der Herr Marschall Schweigmund von Unfind mußte zum Unterschied von seinem Diener – denn mehr war doch offenbar der dumme Hinz nicht – für sich allein ein Zimmer bekommen. – Der Herr von Unterschwappach hatte seinem Bäsle sehr vorsichtig Mitteilung gemacht von dem blutigen Ereignis, das der wiederaufgehenden Sonne harre. Noch hatte die Dame die eindringende Neugierde des rechthaberischen Mädchenkopfes zu parieren verstanden; aber sie erlahmte in ihren Anstrengungen und gab auch in diesem Kampf nach. Die Kämpfe zwischen Mutter und Tochter endeten insgemein mit der Niederlage der Mutter.
„Wer hätt uns schützen sollen, Mutter, wäre dieser Herr von Unfind nicht erschienen? Über uns Ahnungslose wär Schrecken und Not gekommen!“
„Wir wissen noch nicht, ob wir morgen den Schuß finden, den du hoffst.“
„Habt Ihr nicht gemerkt, mit welcher Umsicht und Fürsorge dieser Marschall dem alten Herrn Vetter zur Seite war? Ich werd mich nicht betrügen.“
„Uns Frauen sind Glaube . . . Hoffnung . .. – Glaube und Hoffnung, die uns vor Männern zieren, schon oft zum Unheil ausgeschlagen!“
„Das weiß ich nicht. Aber wenn Ihr meinen Glauben verwerft: was habt Ihr für Rat zu unsrer Rettung?“
„Die Flucht bleibt uns. Herdlose haben keine andre Auskunft.“
„Und unser Vetter? Und unser Warner? Wenn einer bluten müßte? Wo wären treue Hände?“
„Mein tapfres Kind, sei stille! Will mit dir glauben – hoffen!“
„Der Schloßherd hier in Unterschwappach sei unser Herd! Und die den Herd verteidigen, die wollen wir ehren. Wir wollen nicht fliehen!“
„Ach, Kind! Könnt ich dir sagen, wo sich für uns ein Herd erwärmt! wie bald wir von hinnen gerufen werden sollen an unsern Herd! – Doch du hast recht; wir können jetzt nicht fliehen. Sollen wir es nicht erreichen – das Glück, das uns so nahe ist?“
Die Dame bedeckte ihr Antlitz mit den weißen Händen. Eine heftige Bewegung überwältigte sie. Sie weinte.
Susanna kniete vor ihrer Mutter nieder, umfing ihren Schoß und rief: „Was ist Euch? Mutter, Ihr sprecht in Rätseln ; Ihr selbst werdet mir jetzt zum Rätsel!“
Die Dame stand auf und sagte: „Laß mich allein, mein Kind! daß ich mich sammle. Wenns gut geht, ach, dann wird ja alles gut!“
„Nur eins erst, Mutter! Das vom Herd müßt Ihr mir erst erklären!“
„Das werd ich morgen tun, wenn dieser Herd unversehrt geblieben sein wird. – Schlaf wohl, mein Kind! Ich bedarf der Ruhe!“
Susanna verabschiedete sich. Wie eine Traumwandelnde glitt sie über die Hausflur, die Treppe hinab, über den Hof und durch das offne Mauerpförtchen in den Garten. Da hatte die Stubenmagd getrocknetes Linnen gesammelt und wollte sich eben entfernen.
„Eva!“, rief ihr Susanna zu, „bring mir meine Laute herunter!“
„Gleich, gnädiges Fräulein, gleich!“
„Und laß dir die Zimmer für die Fremden anweisen! Dem jungen Herrn stellst du nachher die spanische Karaffe aus meinem Zimmer auf den Tisch. Vergiß das Räuchern nicht!“
Das „gnädige Fräulein“ setzte sich unter einen großen Apfelbaum und sah träumerisch in die Abendlandschaft hinein. Das Himmelsgold über den dunkeln Wäldern zog das langwimprige Auge empor. Die glänzenden Streifen verlängerten sich, und ihre Glut verklärte den schönen Mädchenkopf. Gelbveigelein und Violen begannen ihre Duftschmeichelei, und aus den Gründen stieg die Dämmerung herauf. Trällernd kam die Magd mit der Laute daher. Als sie diese dem „gnädigen Fräulein“ reichte, flüsterte sie: „Der Herr Marschall hat nach Euch gefragt; er wollte Euern Namen wissen.“ Susanna ließ die zarten Finger über die Saiten gleiten, und als sie fragen wollte, was der Herr sonst noch gefragt habe, war die Magd schon davongelaufen.
Plötzlich ward von einigen Trompetern die Melodie von der Mauer hinunter ins Dorf geschmettert: „Ach, bleib bei uns, Herr Jesu Christ.“ Die Träumerin ward aber dadurch nicht gestört. Jeden Morgen und jeden Abend bliesen die drei Trompeter des Herrn von Schaumberg „zur Ermunterung der Andacht“ evangelische Lieder von der Schloßmauer. Der Herr von Unterschwappach tat es darin seinem Ahnen nach, dem Herrn Sylvester von Schaumberg auf Tundorf, der daselbst einstmals eine Ritterschule „angerichtet, so eine geraume Zeit gedauert hat“, „wie denn der alte ritterschaftliche Konsulent Geißler zu Wetzhausen oft erzehlet, und daß er dieselbe in seiner Jugend besuchet hätte.“
Im schönen Mai waren schon oft am Abend nach dem Trompeterliede die sanften Klänge der Laute in die Blumenkelche gefallen und dann duftbegleitet ins Feld hinausgezogen: wie in Verwünschung geratene Herzschläge aus süßen Stunden irrten und girrten diese Klänge durch die Dämmerung. Und der gelbbestrumpfte Knabe des Schloßherrn lauschte dann und seufzte; aber heute mußte er mit dem Hinz Kugeln gießen. Heute wollte die alte treue Laute durchaus nicht stimmen. Susanna wurde ungeduldig, tat einen jähen Riß über die Saiten und ließ das Instrument zu Boden fallen: ein Schauer zog durch die Blumenköpfe, und der Kauz auf der alten Scheune flog klagend in die Luft.
Susannas Augen hingen an dem letzten schwachen Himmelsschein im Westen, und als sich eine Wolke davor schob, fielen sie zu. Nach einer kleinen Weile erhob sich das Fräulein. Im Weggehen stieß sie mit dem Fuß an die vergessene Laute, und diese brummte und schmollte in sich hinein. Susanna aber merkte das nicht: sie eilte hastig von einem Blumenbeet zum andern, und die zarten Finger tasteten brechend in den Herrlichkeiten, die die Frühlingssonne hingezaubert hatte.
Was schiltst du den Tod, wenn er die zarten Kinder knickt? Sie sind für den lieben Gott!
Und die Blumen sind für einen Halbgott. – Für den Spitzbubenmarschall Hans vom Straufhain? – Nimmermehr! Für den Marschall Schweigmund von Unfind. – Die alte Laute lag vergessen auf der Erde.
Als sich Susanna mit einem großen Blumenstrauß dem Gartenpförtchen näherte, trat der junge fremde Ritter durch dieses ein in den Garten. Susanna erschrak: ihre Blumen fielen zur Erde.
„Gnädiges Fräulein, Ihr habt da was fallen lassen“, sagte der Herr Marschall verlegen, hob die Blumen auf und reichte sie dem Fräulein. „Nehmt es nicht uneben, daß ich auf Euern Weg geraten bin. Ich habe fürsorglich die Schloßmauer umgangen wegen der Gefahr, die den Insassen droht, und da bin ich an dieses Pförtlein gekommen und wollte eben sehen, wo es hinführt, und ob es auch verwahrt werden müsse. Ängstet Euch nicht! Es wird morgen alles gut werden.“
„Ich traue Euch, Herr von Unfind! Ihr schaltet und waltet in guter Art; da wird das Schloß wohl sicher sein.“
„Die Damen bleiben zurückgezogen. Das andre wird sich ja finden.“
Galant, als hätte er die Ritterschule besucht, verabschiedete sich der Marschall Schweigmund von Unfind von dem Fräulein und küßte ihr die Hand.
Wie eine Traumwandlerin war Susanne vor einer Stunde aus dem Schloß in den Garten gekommen, und wie eine Fieberkranke kehrte sie zurück auf ihr Zimmer. Ihre Wangen brannten, und auf ihrer Hand brannte es, als hätte sie auf dem Blumenbeet eine Brennessel gestreift, und ihr Herz war voll zum Zerspringen. Sie legte die Blumen auf den Tisch, ging im Zimmer auf und ab, öffnete das Fenster mit dem umgebognen Blei und sah hinaus in die Dunkelheit, ging wieder auf und ab und begann dann die Blumen zu einem Strauß zu ordnen. Aber die Blumen schienen ihr so wenig zu gefallen, als vorhin ihre Laute. Es dauerte lange, bis sich die duftenden Sonnenkinder zu einem Ganzen rundeten. Dann nahm Susanna eine alte aus Stein geschnittne Vase von einem Eckbrett, versah sie mit Wasser und stellte den Strauß hinein, zündete eine Kerze auf silbernem Leuchter an und begab sich in das Ritterzimmer. Dort stand auf dem Tische die spanische Karaffe; sie stellte die Steinvase dazu und die flammende Kerze dazwischen. Rasch schwebte sie wieder von dannen in ihr Zimmer.
Der Herr Marschall Schweigmund von Unfind war mit seinem Befestigungswerk zu Ende und half dem Herrn von Schaumberg, dessen volles Vertrauen er schon gewonnen hatte, im Verbergen seiner Dokumente, Kasse, Pretiosen und allerlei Raritäten. Den Fremden machte er lieber zum Wissenden als einen seines Hauses; denn er war zu oft schon hintergangen worden.
In der Küche goß Hinz mit dem Diener Kugeln. Ein ansehnlicher Krug Wein, der auf dem großen Herde stand, erhielt die Gemüter geschmeidig und die Zungen geläufig. Die umhersitzenden Mägde und Knechte suchten sich durch Einschenken und allerhand kleine Dienste gefällig zu erweisen.
„Wenn nur Kugeln für die Nachtigall und die Singerin und das Orgelgeschütz da sind; möcht morgen gern konstablieren“, sprach Hinz und strich sich seinen viereckigen Bart.
„Was, Hinz?“, rief der Gelbstrumpf und schlug wie ein alter Kamerad dem Kugelgießer auf die Schulter, „die Schnapphähne werden sich satt an unsern blauen Bohnen da essen; die Knötel können wir schon ersparn.“ Ein lustiges Lachen erfüllte das Bohnenlaboratorium.
Ein Knecht im Hintergrunde hustete und hub an: „Die Schnapphähne wollen sich Schätze holn; wolln ihnen unsre da nüber auf den Zabelstein schicken, daß wir in Frieden bleiben!“
„Ei, du dummer Knötelsack!“, rief eine alte Magd, „dich hat noch keine gemöcht!“
„Alts Reibeisen! Hast net im Stall zu mir gesagt: wär dir schon recht? Kannst bei den Schnapphähnen Marketenderin werdn!“
„Um einen Zank zu verhüten“, sagte Hinz: „Hört zu! Will euch ne Geschichte erzähln. Es war einmal ein Pfaff; der wollte reich werden und zog aus nach Schätzen. Da kam er auf eine Kirchweih, wo viel Bauern und Bauerfraun, wohl zwanzighundert, versammelt warn. Und der Pfaff predigte vom Neuen und vom Alten Testament und sprach: „Des St. Brandanus Haupt hab ich hier! Dem soll ich ein Münster weihn von reinen Opfergaben. Es mögen drum von den Weibern nur die ein Opfer bringen, die rein sind, denn des heiligen Brandanus Haupt kennt jede, die betrügen wollt. Kommet her, das Haupt zu schaun!“ Als nun der Pfaff zu singen begann, brachten die Weiber flugs ihre Gaben. Doch auch der Falschen Opfer nahm er an. Da drängten alle herzu; denn wär eine zurückgeblieben, hätten alle mit den Fingern auf sie gewiesen. Hatte eine kein Geld, so borgte sie sich schnell von einer andern oder gab ihr Ringlein von rotem Gold. So konnten alle ihre Ehr mit ihren Gaben retten. Und wollte eine aus der Leute Mund kommen, so brachte sie öfter Opfer dar, damit ihre Reinheit befestigt würde. Und der Pfaffe besiegelte es, daß alle keusch seien, von denen er Opfer empfahen, und preisete und lobte das Weibsvolk über die Maßen. Und er ist von Ort zu Ort gezogen, und die Frauen wurden froh, wo er hin kam, und ehrten ihn wie einen Gott. Ja, manche edle Frau schickte Boten, daß er zu ihrer Kirche käme. So gewann der Pfaff der Schätze viel.“
Erdmute von Schaumberg hatte unter Lautenbegleitung gesungen: „Wachet auf, ruft uns die Stimme!“ und war dann auf ihr schwellendes Lager gesunken; aber der Schlaf wollte nicht einkehren.
Dem Marschall Schweigmund von Unfind war das Verständnis aufgegangen für die Blumen auf dem Tisch: kannte er doch ihren Weg durch zarte Hände. Er schlief sehr unruhig in dem großen Himmelbett.
Hinz hatte im Gießen des Guten zu viel getan und war so angegriffen, daß er vor der Treppe die sonderbarsten Kapriolen ausführte; er war nämlich auf den genialen Gedanken gekommen, statt der ersten Stufe gleich die dritte zu erschreiten, und das gelang ihm nicht. Und weil er als Konstabler von dieser Weitspurigkeit nicht lassen wollte, schoß er in abenteuerlichen Bogen- und Zikzacklinien um die unterste Kugel des Treppengeländers, deren Hals seine Rechte umklammerte. Da nahm sich das „alte Reibeisen" in ihrer unverwüstlichen Weichmütigkeit seiner an und brachte ihn zu ebner Erde glücklich in sein Kämmerlein.
Der gnädige Herr von Unterschwappach saß noch in seinem Ritterstaat vor einem großen Blatt Papier und zeichnete mit Kohle einen Schlachtplan für den Fall, daß sich der Krieg ins Feld spielen möchte.
Susanna träumte von einem Herd und spielte um ihn herum „Haschens“ mit dem Marschall Schweigmund von Unfind.
Der Schlaf hatte auf dem Schloß zu Unterschwappach endlich über alle Herzensnöte und Grillen gesiegt. Jubilierend stiegen die Lerchen vom grünen Klee auf. Im Osten leuchtete die rosige Schleppe des heimziehenden Himmelswächters und wurde getroffen von den Blitzen des aufsteigenden Tageswagens. Am Zabelstein wirbelte die leichte Rauchsäule eines verlöschenden Feuers empor.
Munter und helläugig stand schon Hinz auf der Mauer und rekognoszierte in der Richtung nach dem Zabelstein. Er hatte sich nicht verrechnet: in nicht allzu großer Entfernung kam das Kriegsvolk anmarschiert. Hinz alarmierte die schlafenden Wächter, und bald brachten Sturmglocke, Trommel und Trompete Unterschwappach auf die Beine.
Der Herr von Schaumberg saß noch im Ritterstaat vor seinem Schlachtplan. In sein einförmiges, stilles Landleben waren da anderthalb Tage gefallen mit „fröhlicher Unruh,“ Kriegsaufregung und strategischen Anstrengungen. Und wenn dabei auch etliche Becher Weins über die Gewohnheit eine wundertätige Kraft bewährt hatten, so war auf die Überspannung doch plötzlich eine Müdigkeit gefolgt, die nach der Entstehung einiger burlesker Linien und Kleckse auf dem Schlachtplan das ehrwürdige schwere Haupt auf die Arme niedergezogen und so das große Werk nächtlicher Hingebung schonungsvoll zugedeckt hatte.
Als die Alarmsignale an das Ohr des schlummernden Strategen schlugen, sprang er auf, stülpte sich seine auf dem Divan liegende weiße Zipfelmütze auf den Kopf, nahm seinen Schlachtplan, ergriff anstatt seines spanischen Rohres ein in der Ecke lehnendes Blasrohr und stolperte hinunter auf den Schloßhof. Der gnädige Herr war der erste Mann auf dem Platz – in der linken Hand den Schlachtplan, in der rechten das Blasrohr. Er war von Hinz, den Trommlern und Trompetern noch nicht bemerkt worden; da stand ihm schon der Herr Marschall Schweigmund von Unfind zur Seite.
„Gnädiger Herr! Ihr habt Euch wohl vergriffen. Ihr habt die Schlafmütze auf - Euer Hut wird wohl noch oben liegen, und das da ist auch nicht Euer spanisches Rohr!“
„'S ist ein Hund, wenn er nur einen Schwanz hätt! Diese hohle Arbeit ist vom Übel heut“, sagte komisch lächelnd der Schloßherr beim Anblick seines Blasrohrs und eilte hinauf in sein Zimmer, und die weiße Zipfelmützenquaste gebärdete sich lustig über dem weißen Spitzenkragen.
Als der lange Christophel mit seiner Garde die Unterschwappacher Sturmsignale vernahm, kommandierte er „Halt!“ und hielt – wie es von jeher bei Feldherren vor Beginn des Kampfes Brauch war – eine stachlichte Rede an seine Krieger. "Kinder! Wie ihr hört, hat uns der Teufel einen Strich durch unsre Rechnung gemacht. Wir sind verraten – aber noch nicht verkauft! Wolln sehn, wer stärker ist in der schwarzen Kunst, der Schloßkater oder ich. Weiß manch kräftiges Zaubersprüchlein, hab auch ne Leichennadel, womit ich jeglichen banne. Nur tapfer an! Wer rückwärts sieht, den mach ich fest und laß ihn stehn drei Tag und drei Nächte, daß jeder Bauernbub ihn mit Kot wirft und jedes alte Weib ihn anspuckt! Dohle, du kriechst mit deinen zehn Schleichern durchs Korn und kletterst mit ihnen beim alten Kirschbaum hinten über die Mauer, wenn ich mit der Hauptmacht vorn ins Feuer gerate. Wolln den Geizhälsen Mores lehren, wenn sie nicht wissen, was des Kriegsmanns ist! Die Därmer schnappen uns vor Hunger; und dort im Schloß giebts Schinken, Käs, Butter, Eier und manches Tönnlein Pökelfleisch. Und an den Pökelfässern vorbei gehts noch etliche Stufen hinab zu größern Tonnen – Kerls! – mit einem Wein, der euch die Zungen schmelzen soll. Pardon gibts nit! Nun drauf und dran! Avance Kameraden! Avance 'aventure!“
„Hurra!“, brüllte das lockre Korps und schritt mit dumpfem Gesang dem langen Christophel nach.
Christophorus! valera –
Den Spieß und Feuerschlund –
Christophorus! valera –
Mach scharf und heiß izund!
Nun beißt die Zähn zusamm
Und werft den Feind vom Damm!
Wolln lustig klettern übern Zaun,
Den Satan in die Pfanne haun!
Christophorus! valera!
Heisa, hoppsa, tralera!
Den anstürmenden Schnapphähnen wehte eine weiße Flagge von der Mauer entgegen. „Halt!“, kommandierte der lange Christophel, „wolln hörn, was der Schloßkater spricht.“
Der Kommandant trat mehrere Schritte vor. Auf der Mauer stand ein einziger Mann, der Marschall Schweigmund von Unfind. Er rief dem Haufen zu: „Der Schloßherr läßt euch sagen, daß ihr auf dem Rasen vor dem Dorfe sattsam gespeist werden und auch ein fein Trünklein bekommen sollt, dafern ihr Unterschwappach heut und hinfüro umgehen wollet. Wenns euch nit so gefällt, ist euch allen das Brot gebacken!“
„Pardon gibts nit!“ schrie der lange Christophel, gebt Feuer!
In demselben Augenblick war der Parlamentär mit der weißen Flagge hinter der Mauer verschwunden. Die Büchsen- und Musketenladung flog ziellos in die Luft. Und während des langen Christophels tapfere Mannen ihre Feuerschlünde wieder mit Pulver und Blei speisten, standen vierzehn Mann auf der Mauer mit angelegten Musketen, in ihrer Mitte der Parlamentär mit der weißen Flagge. „Haltet ein!“, rief der Herr von Unfind, „hinter euch vom Dorfe her kommt eine zweite Macht!“
Aber der lange Christophel schrie: „Pardon gibts nit! Gebt“ –
Da krachte es schon von der Mauer, und im nächsten Augenblick war die Schloßwehr hinter der Mauer verschwunden. Die Ladung von unten war wieder vergeudet; aber fünf der armen Schnapphähne lagen zu Boden.
Des Marschalls strategische Anlage bewährte sich vortrefflich, so einfach sie auch war. Er hatte zwei Brettertreppen an der Mauer anbringen lassen, dreißig Fuß von einander entfernt, und zwischen den Treppen Heu aufschichten lassen. Auf den Treppen waren seine vierzehn Mann emporgestiegen und hatten sich vor dem Heuhaufen in Linie gestellt.
Nachdem sie abgedrückt hatten, waren sie hinunter gesprungen; und ebenso hatte der Parlamentär sein plötzliches Verschwinden ermöglicht.
Nach der zweiten Salve der Schloßstürmer war auf der entgegengesetzten Seite hinter dem Schloß ein Schuß gefallen, der dem Herrn Schweigmund von Unfind nicht entgangen war, obgleich er am Kopf stark blutete. Er mußte hinweg geführt werden, und der Herr von Schaumberg, der in seinem Ritterstaat, nun im Hut und in der Rechten das spanische Rohr und in der Linken den Schlachtplan, mitten auf dem Schloßhof, sich an seiner geschickten Schloßverteidigung ergötzend, wie angewurzelt gestanden hatte, eilte herzu und rief: „Herr von Unfind, liebster Herr Schweigmund! Wie ists möglich? Ach, das Unglück!“
Auf dem Heuhaufen gab es noch einen Blessierten. Es war der Knecht, der sich beim Kugelgießen an dem „alten Reibeisen“ gerieben hatte. Seine verrostete Muskete war beim Feuern zersprungen und hatte ihm zwei Finger weggerissen. Und von einem Splitter dieses Gewehrs war auch der Herr Marschall getroffen worden.
Als die dreschflegel-, mistgabel- und sensenbewaffnete Macht zur Stelle kam, war der lange Christophel mit seiner Garde schon in wilder Flucht auf dem Felde. Von den fünf Gefallenen waren zwei tot, drei stöhnten noch. Verdutzt schauten die Bauern und Söldner drein; aber sie fühlten sich doch bald als Sieger und machten sich breit auf dem Platze.
Die gefährliche Wunde und der erbleichende Mädchenkopf oben am Fenster mit dem umgebognen Blei konnten den Marschall nicht aus der Fassung bringen. Vor dem Eingang am Schloß bat er: „Seht doch nach meinem Hinz hinten auf dem Mauertürmchen und ordnet an, daß wenigstens zehn Mann vor dem Heuhaufen auf der Mauer ihre Schuldigkeit tun!“
Man brachte den verwundeten Marschall in sein Himmelbett, und der Schloßherr sagte: „Will mein Bäsle Erdmute holen, daß sie Euch die Wunde auswäscht und verbindet. Haltet Euch derweil ruhig!“
Da trat Hinz ein. Und der Herr von Schaumberg sagte zu ihm: „Euer Herr ist verwundet. Bleibt bei ihm! Komme gleich wieder.“ Er drückte leise die Tür hinter sich zu.
Hinz gab dem Bauer und dem Gelbstrumpf, die seinen Herrn aufs Lager gebracht hatten, die Weisung, nach der Mauer zurück zu kehren. Als er mit dem Blessierten allein war, neigte er sich zu ihm nieder und flüsterte: „Herr Marschall, mußt denn das Unglück gerade über Euch kommen! Ihr seid ein Mann; sagt mirs, wies steht?“
„'S wird nit ans Leben gehn, Hinz; gib dich zufrieden! Es fiel ein Schuß, wo du postiert warst; was gabs?“
„Ach, Herr! Als ich so laure, kommt ein Kerl und will zehn Mann an die Mauer führn. Ich halt auf ihn, es kracht, er fällt, die andern reißen aus. Ach, Herr! es ist mir leid! Die treue Dohle ists, die hinter der Mauer ihren Geist aufgab. Als er sterbend die Hand nach mir ausstreckte, erkannt ich ihn erst.“
„O wär mit diesem Dohlenleben das Leben hinter mir ausgelöscht!“, seufzte der verwundete Marschall.
„Hier bring ich eine Pflegerin, Herr von Unfind. Nur unter zarten Händen heilen Wunden.“ Mit diesen Worten begleitete der Herr von Schaumberg sein „Bäsle“ Erdmute an das Krankenlager. Hinz wich zurück. Sein Herr war im Geiste schon wieder bei der Verteidigung und sagte: „Hinz, eile und vertritt meine Stelle auf der Mauer!“
„Sie sind geflohen, die Meuterer“, sagte Erdmute von Schaumberg, „beruhigt Euch!“ „So sieh, Hinz, ob unser Feuer Schaden gebracht hat. Gibts Tote, so sorg für ihre Bestattung!“
Hinz entfernte sich. Die schwarzgekleidete Dame begann herzhaft ihr Pflegegeschäft. Sie begehrte eine Magd zur Hilfe, und ihr Herr Vetter fügte sich willig in seine Dienerrolle. Er hatte sich kaum entfernt, als sich Fräulein Susanna zaghaft mit frischem Wasser und Linnen näherte. –
Der Herd war gerettet, und die weißen Hände begannen sich als zarte Herzenswerkzeuge zu regen. Nun blutete einer, und es fehlte nicht an „treuen Händen.“
Der Schloßherr begab sich zu dem Gesinde und verordnete seinem verwundeten Knecht einen bessern Verband. „Gnädiger Herr!“, sagte das Reibeisen, „das ist Sündenschuld! Gestern abend wollt uns der Henner da auf den Zabelstein schicken zu den Schnapphähnen; wir wären Schätze aus dem Schloß für sie. Da hat ers nun!“
Dem Henner war der Witz ausgegangen. Er erwiderte nichts; und das rührte seine Widersacherin so, daß sie sich seiner verstümmelten Hand mit einem Eifer annahm, der einem Äskulap von Gottes Gnaden wohl angestanden hätte. Der arme Witzbold ließ sichs gefallen; denn er wußte wohl, welch ein Schatz von Gutherzigkeit in dem Reibeisen lag.
Hinz ließ sich das Tor öffnen und begab sich auf die Walstatt. Da hatten sich auch die Frauen und Mädchen des Dorfes, die alten Mütterchen und die Kinder eingefunden, und aus der Menge ragten die Bauernköpfe, Mistgabeln, Sensen und Dreschflegel hervor. „Platz gemacht!“, rief Hinz, „wolln sehn, was es zu rapportieren gibt. Die Schloßbesatzung hat sich brav gehalten – mit einer Salve die Hundsfötter weggeblasen!“
„Nit alle“, rief ein Bäuerlein aus der Schloßbesatzung, die dem Hinz gefolgt war, „da, die da sind gar ausgeblasen und liegen blieben, Herr!“
Als Hinz die Toten und Verwundeten erblickte, nahm er seinen Hut ab. Er blieb vor einem Verwundeten stehen und betrachtete ihn aufmerksam. Plötzlich schlug dieser die Augen auf und starrte Hinz an. Da setzte flugs Hinz seinen Hut auf und zog ihn etwas über die Augen. Aber der Verwundete streckte die Hand nach ihm aus und stöhnte: „Aus! Schatzmeister! – Muß sterben! – Der Marschall“ – Hinz stand bewegungslos; da sank die ausgestreckte Hand auf die blutende Brust zurück, das Auge schloß sich für immer.
„Drei Tote! Hinter der Mauer, beim alten Kirschbaum liegt noch ein Toter! – Holt ihn auch her! – Vier Tote! – Schafft sie in einen Stadel, und auch die Verwundeten mit! – Holt einen Pfarrer zum Einsegnen und einen Bader zum Verbinden! In einer halben Stunde muß der Plaß rein sein! Achtung! Marsch!“
Hinz kehrte zum Schloß zurück und ließ sich bei seinem Herrn melden. Er bat die Damen, ihn einige Minuten mit seinem Herrn allein zu lassen. Als sie sich entfernt hatten, neigte er sich nieder auf das Bett und meldete leise seinem Herrn: „Durch Eure Salve sind fünf Mann gefallen, darunter der Schmalhans, der mir die Hand reichen wollt, aber darüber starb. Sein letztes Wort war: Der Marschall! Es sind nun vier Tote und zwei Verwundete. Werden in einen Stadel geschafft; und den Pfarrer und den Bader hab ich auch bestellt. Soll ich den Bader auch zu Euch schicken?“
„Auch der Schmalhans!“ – „Hab ihn von der Mauer aus gesehen.“ – „Brauch keinen Bader! – Stör nun hier nicht mehr; sei dem Herrn von Schaumberg zu Diensten!“ Seufzend drehte der Herr von Unfind seinen Kopf auf die andre Seite.
Hinz begab sich zum Herrn von Schaumberg, der ihn beim Ordnen seiner innern Angelegenheiten verwendete.
Die Damen lagen ihrer Pflicht ob im Marschall-Lazarett.
Das alte Reibeisen tröpfelte dem blessierten Knecht grünen Saft von der Schafgarbe auf den Verband und sagte dabei: „Halt still, Henner! Das heilt. Und wenn du wieder in den Krieg gehst, nimmst net wieder zu viel Pulver! Und wenn wieder Kugeln gegossen werdn, schmeißt kein Salz in den Löffel! Halt still! Das heilt!“