Fünfzehntes Kapitel
Saure Wege
Das Gewitter hatte sich bald verzogen; und die besten Bissen aus der Küche der Frau Böhm – Wurst, Schinken, Aal, Honig – hatte sich der geliebte Gast gut schmecken lassen, und er hatte sich ausgebeten, einige prächtige Äpfel als Rarität in dieser Jahreszeit für seine Scholaren einstecken zu dürfen. Dann war er in nicht übler Laune den Festungsberg hinangestiegen.
Der Eulenvater holte sich eben einen Sperling unter einem Dachziegel hervor, und als sich Martin auf seinem Zimmer Feuer schlug, riß die Eulenmadame ihrem philosophischen Herrn Gemahl den Spatzenrest aus den Krallen, da auch sie nicht lange vorher eine Maus mit ihm hatte teilen müssen. Der Eulenvater ließ sich also den Raub gefallen, wurgte den Federballen hinab und begann, seiner Madame zugekehrt, in ernstem Ton: „Der da drin, der sich eben Feuer schlägt, ist ein sauberer Patron! Vormittag bei seiner Heiligkeit, dem Superintendenten, abends bei der lahmen Magd in Gompertshausen, nachher beim Gewitter um die Ursula Böhmin herumsponsieret! – Ein Blick in die Zukunft zeigt mir allerdings, daß der junge Mann mit einem Fuß über feinem Zeitalter draußen steht, aber, geliebte Ariadne, wenn dein Auge noch nicht zu blöde geworden ist von deinen Mutterschmerzenszähren, so blick einmal über die nächsten Jahrhunderte hinüber!
Du wirst ziemlich deutlich erkennen können, daß es so ist, wie der Herr Sebaldus Krug heut vormittag gesagt hat: dort in der Ferne glauben sie nicht mehr an Hexen und den Teufel, aber ihr Glauben an Gott scheint auch in die Brüche zu gehen. – Siehst du sie rennen und jagen? Übers Meer sausen mit Mühlrädern an den Schiffen – durch die Berge fahren in langen Wagenreihen, schneller als wir fliegen? Siehst du, geliebte Ariadne, wie sie mit den schwarzen Steinen, die sie aus der Erde holen und in engen Türmen verbrennen, arbeiten: spinnen, weben, hämmern, bohren, sägen, pressen, reden, strecken, mischen, manschen? Siehst du sie hundert- und tausendweis in die großen Hütten rennen, Tag für Tag? Die haben freilich keine Zeit zum Hexenverbrennen, aber auch keine Zeit für einen Herrgott.
Manche machen einander noch weis, sie hätten Glauben; die meisten aber wissen und können nichts als rennen, essen, trinken und sich freun. Aber ihre Freuden sind nur Froschfreuden. Hörst du sie unten in den Teichen? Einer schreit wie der andre! Siehat du auch da draußen in der Ferne, wie sie alles zerlegen und zersetzen? Da bleibt nichts ganz. Und wenn sie ein Reich zusammenflicken und denken, sie hätten was Ganzes zuwege gebracht, ist dadrin nur Katzbalgerei, Zankerei und Rauferei, sodaß feste Mauerhaufen gebaut und Waffenwälder gepflegt werden müssen, damit das neue große Ding nicht wieder auseinander fällt. Und das schlimmste Wühlen und Wüten ist zwischen denen, die glauben, sie hätten Glauben, und denen, die nichts glauben.“
Die Madame war längst fertig mit dem Sperlingsrest und sagte zur Besänftigung ihres Eheherrn: „Der Hauslehrer da ist doch nicht ganz so übel dran, als Ihr glaubt, mein weiser Herr und Gebieter. Er ist aus der Schattenseite seiner Zeit hinausgefahren und atmet in dem schönen Teil der Zukunft, ohne das künftige Dunkel zu ahnen.“
„Seculorum amen!“, schrie der Eulenvater.
„Seculorum amen!“, schrie die Madame nach.
„Seculorum amen!“, schrie es von Berg zu Berg, von Burg zu Burg weiter. Und unten in den Teichen quakten die Frösche eifrig im klassischen Stil.
Der kritisierte Theologus aber träumte von Liebe und Befreiung trotz der kirchenväterischen Weisheit, die sich im nächsten Winkel breit machte, und schnarchte einem kuriosen Tag entgegen und Erquickung in seine müden Glieder.
Der kuriose Tag war angebrochen, und Martin erhob sich gestärkt vom Lager. „Wenn ich heut noch einmal den Gang zur Deposition machen müßte: es wäre nicht so schlimm. – Zu den Unehrlichen muß ich – nicht, um sie beichten zu lassen, nicht, um sie zu bekehren: um die Organisation der Unehrlichkeit vor Auflösung zu bewahren! Sind das Seelsorgerproben? Aber ich kann nicht anders, ich muß! Geh ich denn nicht aus, eine Seele zu retten? Die Unehrlichen, zu denen ich muß, kann ich nicht ändern; und das Leben, das mich und sie umgibt, wird sie auch nicht ändern. Und dieses Leben kann ich auch nicht ändern, dieses Leben, das einen geharnischten Wahn als Impuls birgt. Gestern bin ich von einem Manne auf der Zinne der Zeit, vor dem ich mit dem Finger auf diesen Wahn zeigte, für einen Narren erklärt worden: heute geh ich zu Spitzbuben und werde wahrscheinlich respektieret. Diese rauben Kälber, Hammel, Pferde, Geld: jene auf der Zinne dieses Zeitalters zertreten Liebe und Leben! Ich irre nicht: ich gehe!“
Und der Herr Informator Martin Bötzinger ging.
Ach, so ein Sonntagsmorgen, an dem die Wege von Karren und die Fluren von wühlenden Menschen frei sind, so ein Sonntagsmorgen, an dem die Natur unangetastet und festlich ihre aufgehende Sonne empfängt, früh, wenn die Vernunftbegabten sich noch in ihren Hütten oder Palästen auf dem Lager wälzen, so ein Sonntagsmorgen ist der Abglanz göttlicher Liebe. In diesen Glanz, in diese Herrlichkeit hinein trat Martin.
Und als er draußen im Walde dahin schritt, und die von Vogelgesang und Duft erfüllte Luft ihm mit jedem Atemzug heilend in die Brust drang, wurde er mit jedem Schritt leichter und froher. Auf eine Blöße hinaustretend und in das grüne Waldgewölk der sanften Bergwände blickend, sang er aus Leibeskräften in den herrlichen Sonntagsmorgen hinein:
Frank und frei im schönen Franken
Durch den Wald zu wandeln,
Frank und frei von Wahnesschranken,
Frank und frei zu handeln:
Welch ein Leben, welche Lust
In des freien Franken Brust!
Frank und frei im schönen Franken
Sich die Jungfrau kiesen,
Frank und frei und sonder Wanken
Sie ins Herze schließen:
Welch ein Leben, welche Lust
In des freien Franken Brust!
Am Fuße des Straufhains angelangt setzte sich Martin Bötzinger auf einen großen Stein. Dem angehenden Seelsorger schien es auf einmal doch sehr gewagt, auf gut Glück den „Malefizspitzbuben“, denen er einst in Unterfranken so ängstlich ausgewichen war, einen Besuch zu machen. „Wie werden sie dich empfangen, diese verkommnen Gesellen? Werden sie dich nicht verhöhnen und vielleicht gar festhalten? Ein Testament habe ich zwar nicht zu machen; aber es wäre doch schmerzlich, aus der Welt zu müssen, ohne das Äneä Sylvii historisch Werk in Münchsschrift auf Großregelpapier gedruckt aufgefunden, ohne der Jungfer Ursula erwärmende Kraft von innen heraus weiter geprüft, ohne den unglücklichen Sohn der – meinetwegen verbrannten Sambel gerettet zu haben! Ich bin es dem Andenken der mütterlichen Freundin schuldig und auch verpflichtet, zur Sühne des an ihr begangnen Frevels, den Sohn zu retten. Es muß sein! Auf und hinauf.“
Martin kletterte den Berg hinan, nicht „den Berg des Heils“ – den Berg der Spitzbuben und Galgenstricke. Da raschelte es im dürren Laub: „He, guter Freund, hinneröm! Wonaus? So hitzig geht das nit! Steh Er Red und Antwort, oder Er kriegt was in die Bein!“
„Wir kennen uns! Ich wollt mit Euch und Euern Gesellen in einer absonderlichen, wichtigen Sache Rats pflegen und hab mich deshalb aufgemacht zu Euch auf den Straufhain.“
„Freilich kennen wir einander; Er ist der Hauslehrer von der Festing. Das warn lustige Pfingsten hinneröm! Er hat selmal nit gehetzt; will mirs gefalln lassen, daß Er in unserm Burgrevier herumvagiert; wärs der Pfarrer von Lindenau, schmiß ich ihm die Bein zwei – wollt mich selmal ins Verlies werfen hinneröm! Euer Wein hat uns geschmeckt, und unter Euerm Proviant warn gute Bissen! Ein gspaßigs Pfingsten! Dem Pater habn sie die Rechnung am Morgen auf den Buckel geschriebn. Schadt nix, kann was vertragn hinneröm! Also Er will auf unser Burg? Gut, schon recht! Aber das will ich Ihm gleich sagen: Aufgenommen wird keine Seel mehr in uns Kapitel! Uns Marschall hats jene Tag extra so angeordent!“
Beide stiegen weiter den Berg hinan, Martin voran.
„Wieviel sind eurer noch beisammen?“, fragte Bötzinger.
„Wird nix verraten hinneröm!“
„Haltet ihr denn auch die Pferde euers Marschalls gut?“
„Wenn Er vielleicht als Spionierer kommt, da kann Ihm das Fell derb gegerbt werden hinneröm! Hält Er mich für einen Schuft oder eine alte Frau? Da kommt Er beim Rechten an! Mein Amt will was besagen, Herr! Bin nit von gestern und hab unserm Kapitel immer Ehr gemacht!“
„Ich komme nicht als Spion“, entgegnete Martin, das wär mir das letzte! Ich weiß so gut wie alle Welt, daß euer Marschall in Koburg sitzt und als Hexenmeister verbrannt werden soll. Aber das Unglück euers Marschalls scheint euch keinen Kummer zu machen?“
Da packte der Straufhainer den Herrn Bötzinger am Kragen und schüttelte ihn.
„Was?“, rief er, „mir keinen Kummer machen! Ihn soll gleich der Teufel purgiern, wenn Er das noch einmal sagt! Hab ich nit beim Marschall einen Stein im Brett hinneröm, und er bei mir zehn und hundert und tausend? Er versteht nix von unserm Kapitel!“
Als sich Bötzinger von seinem Schrecken erholt hatte, wagte er hinzuwerfen: „Um euern Marschall ists geschehn, wenn nicht bald was für ihn getan wird.“
„Was Er mir da sagn will, wissen wir schon lang. Und was geschehn soll, das will Er wohl alleweil von mir erschnappn? Wenn Er sein Spioniermaul noch lang spaziern läßt, bind ich Ihn an ne Eiche hinneröm und stopfs Ihm mit Rasen zu!“
Martin wagte es nicht, weiter mit seinem Begleiter anzubinden. Ein längeres Schweigen unterbrach dieser endlich mit den Worten: „Ich führ Ihn in unser Kapitel, und da soll Er zuhörn, wenn wir beraten, was mit Ihm geschehn soll hinneröm. Das sollt Ihn vorderhand mehr kümmern als unser Marschall. Er tut ja, als hätt Er auf diesem Grund und Boden auch ein Recht hinneröm. Wird Ihm schon angestrichen werden!“
Einige Herren vom Kapitel, darunter der Graukopf aus der Eisfelder Gegend, saßen vor der Ruine und waren nicht wenig überrascht, als Bötzinger mit seinem Begleiter ankam – „frank und frei“!
„Host an Fang getoa?“, fragte der Graukopf, „a propper Harrla! Durchschlupf, du bist a Kreuzluder!“
„Hinneröm! Is a guter Bekannter vomer.“
Der Schatzmeister trat heraus, musterte den Ankömmling von Kopf bis zu Fuß mit einem Blick von obenherunter und sagte: „Wird net vill dermehr sin! Was wist du mit dem Kerl bei uns, Durchschlupf?“
„Nix will ich mitm; er will öppes hinneröm. Habn schon gsagt, aß ka Mensch mehr ins Kapitel kann kommn. Hols der Teufel, 's is der Hauslehrer beim Schösser auf der Festing. Bin ihm Pfingsten bei Tafel auf der Festing aufgestoßn hinneröm. Scheint a Spionierer zu sein.“
Das ganze „Kapitul“ hatte sich zusammengezogen vor dem dreisten Vogel, der da ins Garn geflogen war. Der Schatzmeister, der für den Marschall zu vikarieren schien, wandte sich gebieterisch an Martin Bötzinger: „Tritt Er ein in die Burg! Die Prozession soll beginnen. Der Konvent konstabliere sich!“
Der Schatzmeister hieß seinen Delinquenten sich am Steintisch aufstellen in der Mitte des halbdunkeln Burgraumes und nahm die Stelle des Marschalls auf dem Schutthaufen ein. Der Konvent bildete hinter Bötzinger einen Halbkreis, und der Marschallvikar eröffnete „die Prozession“ feierlich mit den Worten: „Eh ich nach dir frage – schwöre! Sprich nach, was ich dir vorsage!“
Martin Bötzinger hatte sich eine Verhandlung mit den Spitzbuben sehr einfach gedacht und erschrak vor diesem sich entfaltenden Zeremoniell. „Was soll ich schwören?“, fragte er.
„Das werd ich dir vorsagen. Zu fragen hast du hinfüro nicht mehr; jetzt aber hast du zu schwören, wenn du nicht gebunden werden und ins Verlies geworfen sein willst. Sprich also: Ich schwöre und gelobe zu Gott dem Allmächtigen – daß ich dessen, was ich hier sehe und höre – niemalen über meine Lippen kommen lassen – noch aufschreiben oder sonst kund tun will – weder Obrigkeit, noch gemeinen Leuten – weder Vater, Mutter, Geschwistern, noch weniger meiner Frau oder Kindern ein Titelchen offenbaren oder verraten will; – auch wenn ich sollte gemartert, ja gerädert werden – will ich schweigen wie das Grab und lieber den Tod leiden, als etwas bekennen – so wahr mir Gott helfe durch Jesum Christum seinen Sohn!“
Mit zitternder Stimme sprach Martin den Schwur nach. Die Aufregung brannte ihm den Mund aus. Nach der Vereidigung fuhr der Schatzmeister fort: „Wie ist dein Name, und wes Standes bist du?“
„Martin Bötzinger, Theologus, gegenwärtig Hauslehrer beim Herrn Andreas Götz, Schössern auf der Feste Heldburg.“
„Was ficht dich an, daß du dich auf unsre Burg wagest?“
„Euer Marschall ist gefangen und soll in Koburg als ein Hexenmeister verbrannt werden. Aber ich will ihn retten. Und wenn ich das durch mein Zeugnis vor dem Ordinarius des Schöppenstuhls nicht erreiche, so muß eine Flucht bewerkstelliget werden, und dazu brauche ich Euch.“
Der alte Graukopf trat einen Schritt vor und sah mit funkelnden Augen dem Herrn Bötzinger scharf ins Gesicht; der Spion Durchschlupf drückte seinen Hut, den er in der Hand hielt, zusammen und strich sich mit der Rechten über seine Tonsur, indem er dem Spion Schnappauf zuflüsterte: „Hinneröm! Aber der Schatzmeister saß da in unerschütterlicher Ruhe und Würde und fuhr fort: „Du wirst den Schöppenstuhl nit verrücken, und wenn du dich auch mit allen Vieren daran stemmen wirst. Deine Sache kommt mir vor wie ein dummer Spaß. Aber ich und meine Leute sind Ernst gewohnt.“
„Mit meiner Sache ist mirs heiliger Ernst, Herr! Morgen geh ich nach Koburg. Aber für den Fall, daß nur Rettung durch Flucht möglich wäre, wollte ich euch sagen, auszuhalten in Einigkeit und zusammen zu greifen, daß das Werk gelinge. Ich werde sorgen, daß dem Marschall zugesteckt wird, was er zur Flucht braucht.“
„Du geistlicher Grünschnabel du! Wenn ich bedenke, daß der Heldburger Pfaffe, der die spitzbübischen Geleitsreuter instruktiert und ihnen die Häscherlisten eingetränkt hat, dein Vorgesetzter ist, und daß die Koburger Pfaffen, die unsern Marschall mit ihrem frommen Räuchwerk trunken machen wollen, dich einmal auch als einen Pfaffen in Amt und Würden setzen sollen, und ich soll trotz alledem glauben, du dächtest ernstlich daran, ihnen den fetten Bissen aus der Folterzange zu reißen: so muß ich sagen, daß du übergeschnappt und ein Generalnarr bist! Ich fordre hiemit das Kapitul auf, feierlich zu erklären und kund zu tun, ob mein Spruch gegründet und recht ist!“
Der Halbkreis erklärte in einem Gemisch von höhern und tiefern Stimmen: „Übergeschnappt! Verrückt! Ein Generalnarr, Kapitalnarr, Erznarr!“ Und hintennach hörte man noch den schneidenden Tenor des Spions Durchschlupf: „Gerbt ihm 's Fell hinneröm und jagt ihn zum Teufel!“
Aber der Präsident des Kapitels fragte weiter: „Wie kommst du darauf, uns den Marschall retten zu wollen? Unser Marschall ist doch den Pfaffen ein Dorn im Auge.“
„Ich habe als Knabe mit ihm gespielt. Und ich will euch nicht den Marschall retten; ich will den Hans sich selbst retten, der ohnedies dem Treiben der Unehrlichen Valet geben und euch entlassen wollte.“
„Wos sögt ar? Er kennt unnern Morschall amend besser wie mir!“, brummte der Graukopf. Aber der Präsident blieb unerschütterlich: „Die jungen Pfaffen sind mir so lieb wie die alten. Wir können uns unsern Kram von dir nit versalzen und verhunzen lassen. Heut nacht werden wir Koburg an zehn Enden anzünden. Und wenn die ganze Stadt um Mitternacht auf den Beinen ist und sich kein Mensch vor Angst und Schrecken um den andern kümmert, gehn wir zum Ortolarius vom Schöppenstuhl und zwingen ihn mit Messer und Büchse, daß er unsern Marschall frei gibt.“
Martin erbebte vor diesem barbarischen Plan und rief: „Ihr bringt großes Unglück über die Stadt und werdet euern Zweck nicht erreichen; denn in der großen Menge seid ihr leicht zersprengt, und über die Mauer der Miliz hilft keine Strickleiter hinweg. Überdies würde euch euer Marschall um des großen Elends willen, das ihr über Koburg brächtet, nur schelten; wenn es möglich wäre, würde er gewiß solche Schaudertat mit seinem Tod ungeschehen machen.
Mein Plan gründet sich auf Überredung oder List – – ist still und ohne Geräusch, sonderlich aber ohne Schädigung des Gutes und Lebens andrer ausführbar und darum dem euern vorzuziehen.“
„Halt!“, rief Schmalhans, „ich hab nen Einfall, Schatzmeister! Wir haben da einen von den Leuten, die unserm Marschall den eisernen Kragen an den Hals gelegt habn: wolln den da auch anschmieden. Dann heißt es: Mann um Mann!“
Der Konvent jubelte auf vor Freude über den Einfall des Schmalhans. Dem Martin Bötzinger schlotterten die Knie, und er mußte sich an dem steinernen Tisch festhalten.
Aber auch jetzt verlor der Präsident nicht seine Ruhe. Mit gehobner Stimme sagte er: „Still, ihr Leute! Der närrische junge Pfaffe da soll seinen Plan erst gehörig offerieren; alsdann soll Spruch gefällt werden. Fahre fort, tu zu wissen, wie dus meinst.“
In Bötzinger dämmerte wieder etwas Hoffnung auf, und er erklärte: „Morgen geh ich nach Koburg und stelle dem Ordinarius vom Schöppenstuhl vor, daß alle Beweise fehlen und jeglicher Anhalt für die Beschuldigung, auf die hin der Marschall Hans verbrannt werden soll. Ich werde überhaupt klar und deutlich dartun, daß der Glaube an Hexerei eine Gotteslästerung ist. Und wenn ich auf diesem Weg nichts ausrichte, so hoffe ich doch, den Marschall Hans aus den schweren Banden zu lösen durch Argumente, die ich hier verschweigen muß, hoffe auch, es dahin zu bringen, daß mir oder der lahmen Magd von Gompertshausen ein Besuch im Gefängnis gestattet wird. Der Gefangne feilt dann die Fensterstäbe ab, und ihr seid bereit mit Strickleitern und mit dem flüchtigen Fuchs des Hansen. Die lahme Magd in Gompertshausen erhält morgen abend noch Rapport von mir, überhaupt alle Tage Mitteilung über den Stand unsrer Sache, und etliche von euch holen jeden Abend bei der Lindenelsa Erkundigung ein, wie weit unser Unternehmen gediehen ist, damit ihr euch darnach einrichten könnt.“
Der Präsident lachte und sagte: „Nun ist mir völlig einleuchtend, daß du ein Narr bist, sonst könntest du nicht glauben, daß wir, einer nach dem andern, bei der Lindenelsa in die Falle gehen könnten, um uns auch in Ketten legen zu lassen. Nunmehr frage ich den Konvent, ob unsre Prozession spruchreif ist?“
Alle riefen: „Ja!“
„So wiederhole ich den Antrag des Schmalhans in der Frage: Soll dieses übergeschnappte Pfäfflein im Verlies verwahret werden als ein Pfand aus dem Lager unsrer Feinde, bis sie unsern Marschall freigeben?“
Alle riefen lebhaft: „So soll es sein! So lautet unser Spruch!“
Der Präsident fuhr fort: „So bindet ihn und führt ihn ab! Wenn auch unser Mann schwerer wiegt als dieses närrische Pfäfflein da: sie werden sichs überlegen. Schmalhans und Dohle, ihr macht euch auf die Strümpf zur lahmen Magd in Gompertshausen und meldet ihr, wies steht. Sie soll sich schleunig auf ihren Karrn setzen, nach Heldburg fahren und Lärm schlagen von wegen des Theologus
Martin Bötzinger, Hauslehrers beim Schösser Andreas Götzen!“
Der Herr Marschallvikar erhob sich und begab sich, stolz lächelnd, ins Freie. Martin Bötzinger ward gebunden und in eine Ecke des Gewölbes, wo die Pferde des Hans standen, gebracht.
Während des Vormittagsgottesdienstes, als Gompertshausen im tiefsten Frieden lag, und die Mütter als die eigentlichen Hausseelen einsam an den Herden schalteten und walteten, und hie und da ein kleiner „Hemdleuter“ am Fensterrahmen kaute, und ein gebrechliches „Herle“ oder „Fräle“ in der „Hel“ sein Gebet sprach, und der Tagwächter mit dem großen Spieß ein Trüpplein
vagabundierender Gänse aus dem Wiesgarten jagte, trat die Dohle als Bauer gekleidet und der Schmalhans als Schäfer mit einer langstieligen Schaufel mit Fanghaken, nebst einem Hund zur Seite, bei der Lindenelsa ein.
„Liebstes Gottle, das fahrend Ding!“, klagte die lahme Magd, sich vom Lager erhebend, „seid gwiß weit her – kenn euch net. Habt ihr Drehlinge unter Eurer Herde?“
„Kennt Ihr den Marschall Hans, Elsa?“, fragte Schmalhans.
„Ach du Allwaltender! Ist das ne Frag! Der arm Hans! Der arm Marschall!“, jammerte die lahme Magd.
„Was geht Euch der Hans an, daß Ihr so um ihn jammert?“
„Wüßt ich nur erst, wer ihr seid! Was fragt ihr mich so? Kennt ihr ihn denn?“
„Wollns Euch sagen, wer wir sind – aufrichtig und ehrlich; hernach habt Ihr zu beichten, wie sichs gehört – auch aufrichtig und ehrlich, sonst ist Euer Brot gebacken! Ich bin der Schmalhans, und der ist die Dohle. Wir stehen in Diensten des Marschalls Hans, kommen vom Straufhain und wolln Gericht über Euch halten. Denn in Euerm Haus ist der Hans gefangen worden. So wird erzählt. Was habt Ihr mit unserm Marschall zu schaffen gehabt?“
„Ach, ich elend Ding! Ich Unglücksmensch! Ich hab noch keine Lügn gesagt – will auch den Spitzbubn die Wahrheit sagn. Wie der Hans ein Bub von elf Jahrn war, habn sie in Koburg seine Mutter verbrannt – unschuldig, weiher! Unschuldig! Und der Schreck und die Angst habn den armen Bubn über die Berg gehetzt, und im Gauerswald hab ich ihn gefundn, wien das Fieber geschüttelt hat. Da hab ich den kranken Bubn auf meinen Karrn geladen und hab ihn kuriert und habn vier Wochen in meinm Haus gewart und gepflegt und getröst und zurecht gebracht. Und hernach ist er ins Papistisch, und hernach hab ich ihn als herzoglichen Leibknecht wiedergesehn, gar statiös, und hernach ist er Marschall worden. Ach, ich häng an dem unglücklichen Hans, als wärs mein Kind; ach, ich elends Mensch! Und der Hans hat sich nach mir gesehnt und ist zu mir kommn in der Nacht und hat gsagt, daß er 'n ander Leben anfangn wollt, und wollt mich die ander Wochn noch mal aufsüch, eh er in den Krieg zög. Und ich habs 'm Jüngferle erzählt, die ihn auch kennt; und die hat sich nix dabei gedacht und hats ihrer Mutter gsagt, und die ihrem Mann, und der dem Superdent, und der dem Schöppenstuhl. Ach, der arme Hans! Nun wißt ihrs; da, nun könnt ihr mir den Kopf abschneidn, da ist er!“
„Kennt Ihr des Schössers Götzen Hauslehrer Martin Bötzinger?“
„Herrjele! Ein braver, gscheiter Mann, der net in die schlecht Welt paßt! Liebstes Gottle! Der rechtschaffen Mann kommt heut auf den Straufhain zu den Spitzbubn und will den Hans retten. Ach, du Allwaltender! Hat euch justement zu mir geschickt? Wieviel hats geschlagen, he? Ihr wollt ehrliche Spitzbubn sein, sagts der Elsa Geßnerin, wies steht! Bin ich auch nur ne elende Kreatur: ich kann öpper doch helfn, wenns paßt.“
„So, Euer Termin ist aus. Das grüne Pfäfflein ist auf unsre Burg kommen, und wir habns fesſtgemacht, wie die ausgelernten Pfaffen unsern Marschall festgemacht habn!“
Bei diesen Worten schrie die Elsa laut auf und kauerte sich mitten in die Stube: ein Jammerbild zum Herzzerreißen! Nach den heftigsten Schmerzensrufen fiel das unglückliche Weib in ein nicht enden wollendes, markerschütterndes Heulen.
Da schrie die Dohle: „Auf, Elsa! Wir wolln Euern Gaul einspanen. Ihr sollt flugs nach Heldburg fahrn und verkünden: Des Schössers Hauslehrer Martin Bötzinger liegt auf dem Straufhain angeschmiedet; und wenn der Marschall Hans in Koburg nit losgelassen wird, so bleibt der Hauslehrer angeschmiedet; und wenn der Marschall verbrannt wird, so wird der Hauslehrer gespießt und aufgehängt. Schreits in Heldburg dem Superdent, dem neunhäutigen Pfaffen, ins Ohr!“
Elsa hatte jedes Wort begierig aufgesogen. Sie sprang auf und rief: „Geht naus, spannt meinen Gaul an, ich will mich anziehn! Ach, du Gerechter, du Allwaltender!
Was solls werden! Der gute Hans, der brave Bötzinger! Das Liebst, was ich hab auf der Welt: gebunden, geschlossen in kaltes Eisen! Ach, du Herr Jesus, Herr Christus!“
Ein solches Fuhrwerken und Schimpfen auf den alten Fritz hatte man noch nicht von der Lindenelsa gehört, wie an diesem Sonntag, als sie nach Heldburg fuhr. Es half des alten Gauls Dicköhrigkeit nichts; er mußte sich zum öftern im Trab versuchen; und dann kam es der fahrenden Frau mit dem „fahrenden Ding" vor, als flöge sie durch die Luft, und der alte Karren ächzte, und seine Räder schwankten und knurrten.
Der Ratsherr Michael Böhm, seine Tochter und Zacher und Lise waren noch nicht lange aus der Kirche gekommen und hatten sich eben mit der Seele des Hauses zu Tisch gesetzt, um sich an ihren Zubereitungen zu letzen, als der Karren der Lindenelsa vor dem Hause anhielt. Im offnen Bodenfenster sang eben die treue Schwalbe:
Das Gewitter gesten, das Gewitter gesten
Hat die Keime geweckt
Und die Halme gestreckt.
Das Gewitter hesten, das Gewitter hesten
Zieht mit Schrecken heran,
Will die Ursel erschlan:
Das kränkt mich sehr!
Das Stillehalten des Fuhrwerks vor dem Hause lockte Ursel ans Fenster. Als sie die Lindenelsa erblickte, eilte sie in großer Aufregung hinaus an den Karren. Die Eltern eilten erschrocken an die Fenster. Zacher ließ die Gabel fallen und sah kopfschüttelnd die Lise an.
Die Lindenelsa sagte zur Ursel: „Schickt mir die Magd raus, daß sie mir runterhilft, ich hab mit dem Ratsherrn im geheimen was zu reden.“
Der Jungfer Ursel war aber die Magd nicht gut genug für die Vermittlerin ihres Glücks; sie hob die gichtgeplagte Elsa mit kräftigen Armen vom Karren und geleitete sie ins Haus, fragend: „Elsa, Ihr bringt schlimme Botschaft? Laßt michs wissen, daß ich net größere Angst aussteh, als nötig ist.“
„Stille, Jüngferle! 'S ist net schlimm, aber 's ist nix für Euch! Mußn Mann habn. Der Ratsherr Böhm ist der richtige.“ Bei diesen Worten sah die Elsa dein Ratsherrn, der entgegengekommen war, bedeutungsvoll an.
„Geht zur Mutter, Töchterle, 's ist gleich gschehn; hernach komm ich und laß mir von Euch was anrichtn, mein Magen hängt krumm.“
Der launige Anflug in dem Wesen der lahmen Magd machte zwar Ursel stutzig; aber sie folgte der Weisung, setzte sich an den Tisch und ermunterte die Mutter und die Dienstboten, ruhig weiter zu essen, der Vater und die Lindenelsa würden auch gleich kommen.
Der Ratsherr Michael Böhm nahm die Lindenelsa in ein besondres Stübchen und fragte: „Elsa Geßnerin, gschwind raus mit der Farbe! Ihr bringt nix guts; merks anm ganzen Getu!“
Die gewaltsam niedergehaltene Aufregung in dem zarten Gemüt des leidenden Weibes kam zum erschütternden Ausbruch: „Wills kurz machn, Herr Böhm – ach, ich zitter – weiß net, obs das fahrend Ding ist, was mich so rumreißt, oder das Unglück, das über uns kommn it; ach, du liebstes Gottle! 'S Unglück ist zu groß! – Horcht! – Die Jungfer Ursel ist net mehr daheim, ihr ganzes Lebn hängt am Hauslehrer drobn, am braven Bötzinger, und der brav Bötzinger liegt, in kaltes Eisen geschmiedt, im Spitzbubenverlies auf dem Straufhain! Die Spitzbubn wolln ihn nit loslassen, wenn in Koburg der Marschall Hans nit losglassen wird, und wenn der Hans verbrannt wird, wolln sie den Hauslehrer – Herr Böhm, s muß runter! – wolln sie den Hauslehrer, den Schatz Eurer Urschel, spießen und aufhängen. Ach, du Allwaltender! Ist das ein Unglück! Ist das ein Elend! Die Ursel ist des Tods, wenn sies hört. Sie darf nix merken; ehe ein Mensch was merkt, muß der Hans frei sein, und auch der Hauslehrer. Und das müßt Ihr ausrichten, der Vater von der Urschel, der Kläger, der Vertraut beim Superdent. Nun seid nur still; wolln Mittag essen, hernach geht Ihr zum Superdent und besorgt Euer Sach! Und Ihr spannt an und fahrt den Superdent nach Koburg, daß er auch sei Sach besorgt.
Der Ratsherr Michael Böhm war steif und starr; er fuhr sich mit beiden Händen in die Haare und lehnte sich mit der Stirn an die Wand.
Aber die Lindenelsa rief: „Habts ghört, Herr Böhm? So ists, und so wirds gemacht! Nur net lang um den Brei herumgerannt! Habts ghört? Der Magen hängt mir krumm! Alleweil an den Tisch – hernach auf die Superdentur! Hernach nach Koburg zum Meister vom Schöppenstuhl! Der arm Bötzinger und die arm Urschel sind zwei! Die zwei sind aber eins! Eins, um das Ihr und die Frau Böhm sich drehn – macht drei oder vier! Und ich dazu macht fünf – und der Hans dazu macht sechs!
Und des Martin Bötzingers Vater und Mutter dazu macht acht! Und der Schösser und seine Bubn und Mädel dazu macht dreizehn! Gschwind! Sonst wird’s immer mehr! Der Superdent soll in Koburg sagen, der Hans hätt so alleweil seine Spitzbubn verlassen und in den Krieg gehen wolln; solln ihn über die Grenz jagen, wird nimmer wiederkommn. – So, nun kommt, Herr Böhm, der Magen hängt mir krumm!“
Sie zog den Ratsherrn am Ärmel nach, blieb aber plötzlich stehn und sah ihm erst noch einmal ins Gesicht: „Herr Böhm, so ists nix! Nimm Er sich einmal zusammn, daß die Urschel nix merkt! Schluck er einmal gleich ne Portion von dem Elend in seinem Gesicht nunter! Ich hab mich daheim ausgeklagt und auf dem Weg gflennt gnug – und ich denk 'zund, die Spitzbubn habn eigentlich 'n gescheitn Streich gemacht. Hab alleweil Hoffnung, daß sich die Sach machn wird. Er und der Superdent! In Euern Händen habt Ihr alleweil drei junge Menschenleben, is der Urschel ihrs dabei! Drei Menschenleben, die mr net maln kann, die zwischen den andern, ordinärn leuchten, wie Demant funkeln zwischen Schutt und Kehricht; denn der Hans is unter den Spitzbubn viel Jahr lang gut und treu gebliebn, und der Bötzinger is unter verkehrten Menschen gscheit gewordn, und die Urschel is a Weibsbild wie die Jungfer Marie: und alle drei hängn mit ihrm Leben zusammn wie Kletten! Merkts Euch, Herr Böhm, und tut Euer Schuldigkeit, sonst ifsts mein Tod und am End auch Eurer und der Frau Böhm ihrer! Aber nun ists gut; der Magen hängt mir krumm!“
Sie humpelte in die Familienstube, und der Ratsherr folgte mechanisch nach.
Als die lahme Magd von Gompertshausen sich an den Tisch setzte, trat der Zacher die Lise auf den Fuß. Ursel erschrak beim Anblick des eintretenden Vaters, verließ den Tisch und eilte nach ihrem Stübchen. Der erregte Mann nahm den Löffel, wo er die Gabel, und die Gabel, wo er den Löffel hätte brauchen sollen.
Aber die Lindenelsa sagte: „Herr Böhm seht nur, wie mirs schmeckt!“ und sah den Ratsherrn mit einem tadelnden Blick an. Da ermannte er sich und aß ordentlich, der lahmen Magd zu Gefallen. Bald entfernte er sich vom Tisch, nahm sein silberbeschlagnes Rohr und ging auf die Superintendentur.
„'S ist net permittiert, Herr Superdent! Ich bring ne Schreckensbotschaft; und Euer Hochwürden muß helfen, sonst geht alles zu Grund!“ Mit diesen Worten trat der Ratsherr Michael Böhm in das Studierzimmer des Herrn Superintendenten. Mitten in der Stube war er stehn geblieben, den Hut noch fest auf dem Kopf.
Der Herr Superintendent war aufgesprungen, ließ beim Anblick des Ratsherrn die Feder fallen und rief: „Herr Böhm, Herr Böhm! Was ist passiert? Der Räuberhauptmann, der Schwarzkünstler ist doch nicht ausgebrochen und wieder ins Land gefallen?“
„Au contraire! Nix ausgebrochen – gfangen und gschlossen! Der Herr Martin Bötzinger – der Hauslehrer!“
„Was sagt Er, Herr Böhm? Der Herr Bötzinger? Was ist mit ihm passiert? Was?“
„Liegt in Eisen und Stahl geschmiedt, geschlossen und gebunden – im Verlies auf dem Straufhain, dem Spitzbubennest, daß 's Gott erbarm!“
Der Herr Superintendent Sebaldus Krug, der feste Mann, erblaßte und schlug die Hände zusammen: „Herr Böhm, was sagt Er? Der Bötzinger in den Händen der Räuber? Geschlossen auf dem Straufhain? Unmöglich! Wer hat Ihm das weisgemacht?“
„Nix weisgemacht! Leider Gottes! Waren zwei Spitzbubn bei der Lindenelsa und habn Meldung getan. Und die ist im Karriere nach Heldburg gefahrn und hats mir in meinem Stübchen offerieret.“
Der Herr Superintendent lief, die Hände zusammenschlagend, um den Ratsherrn herum, immer im Kreise, und rief: „Der Bötzinger auf dem Straufhain! – Fest! – Im Verlies! – Ei du mein Heiland! Erbarme dich!“
Und der Ratsherr hatte noch immer den Hut auf dem Kopf und das silberbeschlagne Rohr in der Hand wie zum Zuschlagen und rief: „Er muß ihn retten, Herr Superdent! Sonst geht alles zu Grund! 'S ist sonst mein Letztes! Und meine Alte und meine Junge fallen mir in die Grube nach!“
„Ich? – Ich – den Bötzinger retten? Ich kann den Straufhain nicht bombardieren. Und wenn ich im Priesterrock käm, sie würfen mich zum Bötzinger ins Verlies. Da behüt mich Gott davor!“
„Aber Er muß ihn retten! Die Lindenelsa hats gesagt, und ich sags auch! 'S kanns kein andrer Mensch, und es darfs auch kein andrer Mensch erfahrn, sonst stirbt unser Urschel!“
„So sagt, wie das geschehen kann, Herr Böhm. Ich will alles tun, was ich tun kann. Aber auf den Straufhain kann ich nicht!
Das Elend und die Not hat mich ganz konfus gemacht. Freilich nit auf den Straufhain! Hab ich gsagt: auf den Straufhain? Bewahre Gott! Nach Koburg soll ich Ihn fahrn, heut noch!“
„Wenn wir die Miliz holn, reißen sie aus und nehmen den Bötzinger mit oder jagen ihm eine Kugel durch den Kopf. Die Schufte wollen Geld erpressen! Merkt Ers nicht, Herr Böhm?“
„Bin konfus, Herr Superdent! Hab ich denn noch nicht gsagt, daß sie den Bötzinger spießen und aufhängen wolln? Das wolln sie, wenn ihr Marschall in Koburg verbrannt wird. Wenn aber ihr Marschall losgelassen wird, wolln sie auch den Bötzinger laufen lassen. Hab ich denn das nit gsagt?“
„Ja, das läßt sich hören! Das hat Er noch nicht gesagt.“
„Und morgen abend wolln sie bei der Lindenelsa anfragen, und da soll ihr Marschall frei sein. Dann wollen sie auch den Bötzinger heimschicken.
„Eine kurze Frist! – O Elend, o Jammer! Und die schwarze Kunst soll wieder florieren!“
„Das nit, Herr Superdent! Der Marschall soll des Lands verwiesen werden.“
„Wenn er losgelassen wird, sitzt er am andern Tag wieder auf seinem Raubnest!“
„Und wenn er nit losgelassen wird, sitzt der Bötzinger auf dem Raubnest, der doch gar nit hinpaßt. Und wenn jener verbrannt wird, machen sie dem Bötzinger den Garaus – und dann geht mein Haus zu Grund!“
„Richtig! Richtig! Weiß, was der Bötzinger an Euerm Kind getan hat; weiß, daß Ihr ihm den Vater gerettet habt. Habt mir ja alles erzählt. Gott, der weise Lenker unsrer Schritte, der Regierer unsrer Herzen und Nieren, hat euch aneinandergekettet mit Taten der Liebe und hat Euch und Euer Haus in die Gegend des Straufhains gestellet, daß Ihr sollt hilfreiche Werkzeuge werden dem armen, gefangnen Bötzinger, und hat mir, seinem Knecht, gewiesen, daß der Hans nicht verbrannt, sondern in einen bessern Wandel geführt werden soll, derohalben der Allgütige seinen jungen Diener in Gefangenschaft hat geraten lassen, zugleich auch ihn zu demütigen und ihn zu züchtigen für die Frevelreden, so er in dieser Stube hat ausgestoßen gegen den eifrigen Knecht Gottes.“
„Zu einem bessern Wandel! So hat die Lindenelsa auch gesagt; nämlich daß der Marschall Hans seine Spitzbubn hat entlassen und in den Krieg ziehen und in jener Nacht, da er gefangen ist worden, von der Lindenelsa hat Abschied nehmen wollen. Will gleich anspannen lassen, Herr Superdent!“
„Tu Er das, Herr Böhm! Ich hoffe, daß wir in Koburg den Burdchen freimachen. Werde gleich kommen.“
Ursel stand in ihrem Stübchen am Fenster und erwartete in der größten Spannung den Vater. Als dieser sich eiligen Schrittes dem Hause näherte, fuhr sie vom Fenster zurück und eilte hinunter ihm entgegen. Sie hatte einige Beruhigung aus seinem Antlitz geschöpft. „Nun sagt mirs, Vater! Ich merk, daß Ihr auf der Superdentur Trost gefunden habt.“
„Ja, Urschel! 'S wird sich alles zum besten wenden; aber bis morgen mußt du noch Geduld haben! Wir fahrn jetzt nach Koburg, und bis morgen mittag sind wir wieder da. Dann ist alles gut.“
„Wird er verbrannt?“
„Er wird nit verbrannt!“
Ursel lief zur Lindenelsa, die ganz allein in der Stube war, fiel ihr weinend um den Hals und flüsterte ihr ins Ohr: „Er wird net verbrannt!“
„Wer wird net verbrannt?“
„Der Marschall Hans!“
„Glaubs, gute Urschel! Glaubs! Will heimfahrn, Urschel! Helft mir auf den Karrn!“
Als die Lindenelsa mit Ursel aus der Haustür trat, kam der Ratsherr aus dem Stall.
„Na, Herr Böhm, wie wird’s?“, fragte sie.
„Jetzt fahrn wir nach Koburg. Bis morgen mittag habt ihr Nachricht.“
„Gott behüt Euch, Herr Böhm! Er gfällt mir 'zund besser wie vor ner halben Stund! Gute Verrichtung! Adjes! Und Ihr, Jüngferle, legt Euch heut abend bald nieder, seid brav und gut und macht Euch kein Angst und Sorg und träumt was hübschs von der Festing! Morgen erfahrt Ihrs, was es war. Adjes!“
Die lahme Magd ließ ihren Fritz sich heimwärts Zeit nehmen und verzichtete auf jeglichen Trabversuch. Aber eine Viertelstunde später hatten die Pferde des Ratsherrn Michael Böhm auf der Straße nach Koburg den Beweis zu liefern, daß sie etwas mehr Jugend und Hafer im Leibe hätten als der Gompertshäuser Fritz.