Martin Bötzinger. Ein Lebens- und Zeitbild aus dem 17. Jahrhundert

 

Elftes Kapitel

Der böse Zweitritt

 

Am selbigen Morgen führte ein Spatzenpärlein auf dem Dach des Ratsherrn Valtin Hübner in Römhild folgendes vertrauliche Gespräch.

Horch, Christel, die zwei Bäum da vor den Fenstern sind gar net gefährlich.“

Das leucht mir ein, Jakob. Weiß net, wies an Hübners Haus die Jahr her war; aber als ich meine Wirtschaft mit meinem ersten Mann oben am Schrammshaus hatte, hats jedes Jahr um die Zeit den Spuk gegebn.“

Wie habt ihrs denn dann gehalten?“

Mein Fritz selig hat mich am andern Tag in die Waldbäum mitgenommen, und wir habn da manchen fetten Maikäfer ins Haus geschlacht.“

Das ist ja ganz romantisch, Alte! Und dort, dächt ich, hing wirklich so ein fetter Kerl an einem Zweiglein.“

Herrjele! Jakob, hast recht.“

Komm, Christel, frisch drauf los! Ein neu Revier für unser Jagen.“

Und nun machte sich Jakob mit seiner Christel in dem Gezweig der Maien vor Ursels Fenstern ein Morgenvergnügen außergewöhnlicher Art.

Die Spatzen sind heut noch so: erst gaffen sie von fern das Neue scheu an, räsonnieren wohl gar darüber, und nachher finden sie darin für ihren Schnabel die fettesten Bissen.

Als der Maikäfer verzehrt war, kam der spolierende Jakob dem Fenster nah, horchte gespannt auf und rief: „Christel, komm! Da drin im Bett singt ein Weiberkopf. Und 's ist net die Frau Hübner, und 's ist auch net die Magd: ist was ganz Aparts – hörsts?“

Ursel sang:

 

Den Maien, den lob ich mir;

Er ist ein gut Gesell.

Mit Lachen er tritt herfür,

Mit Augen frisch und hell.

Schließ mich in deine Arme ein,

So wird mir wohl ums Herze sein.

 

Den Maien, den lob ich mir;

Er schlägt den Winter tot.

Das Grüne er lockt herfür

Und küßt die Wangen rot.

Schließ mich in deine Arme ein,

So wird mir wohl ums Herze sein.

 

Den Maien, den lob ich mir;

Er spielet auf zum Tanz.

Da freuet sich Mensch und Tier

Im Sonnenschein und Glanz.

Schließ mich in deine Arme ein

So wird mir wohl ums Herze sein.

 

Die Glocken läuteten zum erstenmal zur Kirche und verscheuchte die Maiphantasien der schönen Ursel. Erquickt von einem gesunden Schlaf sprang sie fast mutwillig aus dem Bett, sodaß Jakob und seine Christel erschrocken davonflogen.

Als Ursel fein säuberlich zur Morgensuppe erschien, sagte ihr die Frau Hübner ins Ohr: „Urschel, der Schneider hats noch net raus, wer dir die Maien gesetzt hat. Heut abend auf dem Tanz wirst du merken, wers war.“

Ursel lachte und dachte an den neuen Informator auf der Festung.

Der Ratsherr Hübner kam in diesen Tagen nicht zum Trommeln und Pfeifen. Er hatte so große Freude an seinem Besuch, daß er für andres keine Zeit hatte. Man füllte den Tag mit Kirchengehen, Essen und Trinken und ernst- und scherzhafter Unterhaltung aus. Gegen abend wurde ein kleiner Gang durch die Flur gemacht, und das blühende Korn neigte sich freundlich vor den respektabeln Spaziergängern, und wenn die stolze Ursel die Ähren zwischen den Fingern durchgleiten ließ, rauschten die Halme in Pfingstfreude.

Plötzlich stob die kleine Gesellschaft aus dem Feldweg; Ursel sprang ein gut Stück ins hohe Getreide hinein und rief: „Der wilde Reiter!“

Marschall Hans war wie auf Flügeln des Sturmes einhergesaust und sprengte schon auf der Landstraße dahin, der Stadt zu, ehe man sich recht betun konnte.

Der wilde Reiter!“, wiederholte Ursel in großer Leidenschaft.

Was für ein wilder Reiter?“, wandte sich Herr Hübner an den Heldburger Ratsherrn.

Weiß eigentlich net, was sie will“, entgegnete Herr Böhm.

Da trat Ursel hinzu und erinnerte ihren Vater an den Gänserasen und an das Stahlbogenschießen in Koburg und an die böse Tat, die der wilde Reiter damals am Schulmeister Bötzinger von Mupperg verübt hatte, und an die Rettung des Mannes durch Ursels Vater und ihren Paten.

Stahlbogenschießen in Koburg? Anno 14? War ja auch da und weiß noch von einem Sturz in den Stadtgraben, Herr Gevatter. Wie ist denn das mit dem wilden Reiter? Herr meines Lebens, was kommen da für alte Geschichten in Aufruhr!“

Laßt mich einen Augenblick ungeschoren! Es ist, als wär mir eine Ölmühl im Kopf angelassen. – Sapperment, der neue Informator beim Schösser heißt auch Bötzinger und ist auch von Mupperg!“

Ursel wurde blaß und mußte sich niedersetzen am Wegrand.

Und der Informator ist einer von den beiden Studenten, Ursel, von denen du einen als deinen Retter erkannt hattest. Wärs gar der Herr Informator auf der Feste?“

Ursel bedeckte mit beiden Händen das Gesicht und rief: „Er ists!“

Um des Himmels willen, Ursel! Was kommt da noch zum Vorschein! In derselben Stunde, wo dich der Sohn aus dem Getümmel rettete, haben wir den Vater aus dem Wasser gezogen. Ich hörs noch, wie heut, wie du gejammert hast um den Mann. – Ei ei! Wer sollts meinen! Wer sollt an so was denken! So führt uns der Herrgott am Ohr, und wir bleiben doch Esel!“

Die Augen der Frau Hübner standen weit offen, und der Mund auch. Dem kleinen Paten liefen die Tränen über die Wangen. Und der Römhilder Ratsherr war auch verstummt. Er verstand die Geschichte zwar noch nicht, aber die Aufregung seines Besuchs verbot ihm alles Fragen.

Woher weißt du denn, Urschel, daß der Herr Bötzinger auf der Feste der ist, der dich rettete und dir das Blut abwischte?“

Weil er vorige Woche an unserm Haus vorbeigegangen ist.“

Ja, Urschel, das könnte doch auch der andre gewesen sein. Weißt ja net, obs der Informator war.“

Urschel fuhr erschrocken auf. „Wenn ers net wär!“, flüsterte sie, und eine unbeschreibliche Traurigkeit beschwerte ihr Haupt. Auch in des Vaters Seele begannen sich die hochgehenden Wogen zu senken. Aber bald leuchtete es wieder auf in seinem Gesicht: „Urschel, Geduld! Nun ists nit mehr schwer. Nun kommt alles an den Tag. Wenn wir nach Haus kommen, ist mein erstes ein Gang auf die Feste. Ich frag den Herrn Informator, ob ers ist. Und wenn ers net ist, weiß er doch, wers ist, und wo er ist, denn er weiß, wer der andre von den beiden Studenten war. Nun sei still, Urschel, gib dich zufrieden und beweis Geduld! – Unsre Gevatterleut wolln nun auch wissen, wies hangt und langt mit dem wilden Reiter und dem Schulmeister und mit deiner blutigen Nasen selmal.“

Hadoch! Freilich!“, rief die Frau Hübner und ging dem Herrn Gevatter zur Rechten, weil sie mit dem linken Ohr besser hörte als mit dem andern, und ihr Ehegespons hielt auf der andern Seite gewissenhaft Schritt. Der Herr Böhm erzählte nun genau seinen Gevatterleuten, wie es hangte und langte.

Hadoch! Hadoch! Ha, ihr Leut! ihr Kinner!“, rief öfter die Frau Gevatterin dazwischen, und der Herr Gevatter streute sein: „Gotts-Sakerlot“ ein. – In Anbetracht des kurzen Weges und der langen Geschichte blieb das ratsherrliche Kleeblatt zum öftern stehen; und das geschah gewöhnlich, wenn der Herr Gevatter Michel den Zeigefinger an die Nase legte oder die Arme in die Seite stemmte. Der kleine Pate hielt sich dicht hinter dem Erzähler und verlor kein Wort, blieb hübsch mit stehen oder ging nach der Ordnung mit weiter. In einiger Entfernung folgte träumerisch Ursel.

Als man nicht weit vom Tor wieder Halt gemacht hatte, und die Geschichte zu Ende ging, fragte Herr Valentin Hübner: „Was mag den wilden Reiter zu der bösen Tat getrieben haben? Was hat der für eine Pike auf den Mupperger Schulmeister gehabt?“

Herr Gevatter, das weiß kein Mensch. Vielleicht weiß es der Sohn, der Hauslehrer; ich werd ihn fragen, wenn ich für meine Urschel Aufschluß bei ihm hol.“

Da kam wie von ohngefähr der Flickschneider, als wollte er sich auch ein wenig in der Flur ergehen. „Will net störn, Herr Nachbar! Alleweil ist eine Stafette bei der Schwane abgestiegen. Werden doch keine Kriegsvölker angemeldt werden? Wär ein Unglück! Die Haar sind uns alln noch net ordentlich wieder gewachsen vom großen Brand her.“

Herr Nachbar, das ist mir ein verdächtiger Reiter, hat uns im Feldweg draußen auseinandergesprengt, kam net auf der Landstraßn her wie ne Stafette. Nimm Er'n heut abend aufs Korn, was er zu bedeuten hat!“

Werds tun“, sagte der Flickschneider und kehrte mit schnellern Schritten, als er gekommen war, in die Stadt zurück.

Der Ratsherr Michael Böhm blieb stehen und legte den Finger an die Nase, just als hätt er noch das wichtigste von der Geschichte in petto. Aber es war ihm durch des Schneiders Erinnerung an den großen Römhilder Brand etwas eingefallen, worüber er Aufklärung wünschte. Ja, mit dem großen Brand – war damit nicht eine Zigeunergeschichte im Spiel? Wie war doch die Sache?“

Hadoch! Hadoch!“, rief die Frau Hübner. „Es kommt mir allemal ein Graun an, wenn ich Zigeuner seh. War ein Kind von neun Jahrn, aber ich vergeß es net! Warn die Zigeuner da, und einer davon war gestorbn. Und sie fragten gar net und begruben ihren Mann auf unserm Kirchhof. Wie auch die Leut aufbegehrten, und der Herr Superdent und die ganze Geistlichkeit und der Bürgermeister und der ganze Rat dagegen eiferten: die Zigeuner setztens durch und warnten, das Grab anzutasten, sonst käm großes Unglück über die Stadt. Und wie vor fünfzehn Jahrn bei der Kirch mit Graben rumhantiert wird, kömmt der Schädel von dem Zigeunergeripp herfür. Der hatte noch alle Zähn. Und der alt Lurzenschmied kommt dazu und hat seinen Grimm über des Zigeuners gute Zähn, weil er selber net viel mehr hatte und an Zahnweh arg litt, und stößt mit der Schaufel auf das Zigeunergebiß, daß ein Zahn herausfällt; und es blut't. Da ward der Schmied auf der Stell krank und starb am dritten Tag – und am neunten Tag brach der große Brand aus.“

Die ernste Stimmung wollte der Pfingstfreude nicht wieder weichen; auch daheim beim Abendessen flatterte die verscheuchte Heiterkeit vor den Fenstern herum, wie scheu vor der Ursel Traurigkeit. Von der Heiterkeit eines jungen Blutes werden die Alten angesteckt. Aber nun ruhte abwechselnd bald des Vaters, bald Hübners, bald der Frau Gevatterin Auge beobachtend auf dem wehmütigen Antlitz der Ursel und suchte vergeblich nach einem leisen Freudenschein. Der kleine Michel hatte sich ihr gegenüber gesetzt und verwandte kein Auge von ihr. Es mußte was besondres vorgegangen sein.

Da faßte sich Frau Hübner ein Herz, legte ihre Hand dem Mädchen sanft auf die Schulter und schlug den zartesten Ton an, den sie hatte: „Jungfer Urschel, so ist net Pfingsten mehr. Und Ihre Nasn blut't ja schon lang net mehr; und der Herr Schulmeister Bötzinger ist ja schon lang wieder trocken. Und den Studenten, nunmehr ist er auch lange keiner mehr, findt Ihr schon noch. Vergeßt nun auch den hellischen Reiter! Draußen stehn die schönen Maien vor Euern Fenstern, die schönsten in der Stadt, hat der Schneider gsagt, und der hats richtig absolviert – die werden dürr; was hilfts, wenn ich ihnen noch so ordentlich frischs Wasser geb? Nachher gehn wir zum Tanz aufs Rathaus, alle wie wir da sind. 'S muß heut noch wieder Pfingsten werdn!“

Freilich, freilich, Alte, du hast ausnehmend recht. So ists! Jungfer Urschel, werft den zerbrochnen Hafen zum Fenster naus! Auf Eure Gesundheit! Und auf Eure, Herr Gevatter!“, rief der Ratsherr Valtin Hübner, und alle griffen zu den Gläsern, und es gab einen guten Klang. Jungfer Ursel wurde wieder heiter. Das Alter, wenn es seine Jugendreste in den Herzenswinkeln zusammen kehrt, vermag doch auch noch was über die Jungen.

Der Hennebergers-Märt von Westenfeld mit seiner Schalmei ist vorhin schon kommen“, sagte der kleine Michel, wieder ganz vergnügt durch das lustige Klingen der Gläser.

Der darf net fehln“, sagte lachend Herr Hübner, „war selmal auch mit auf dem Stahlbogenschießen in Koburg Anno vierzehn.“

Jungfer Ursel begab sich in ihre Kammer, löste ihr reiches, langes Haar und brachte es in kunstvollere Flechten. Da öffnete der kleine Michel leise die Tür und rief aufgeregt mit gedämpfter Stimme: „Urschel, d' Leut gehn schon alle! Kommt auch bald 'n Gewitter, hat der Vater gsagt.“

Geh nur, Michel, ich komm gleich!“

Es gab noch das und jenes vor dem Spiegel in die rechte Lage zu bringen. Mit dem Gewitter hatte es seine Richtigkeit. In der Gegend des Straufhains stand es dunkel und blitzschwanger. Über Mellrichstadt hing als ein kleiner feuriger Streifen der Rest des Tages am Horizont, und eine sternlose Nacht war im Anzuge.

Beim Ratsherrn Valtin Hübner war eben der Schneider eingekehrt und hatte Rapport erstattet. „Herr Nachbar, ist was Großes! Hat fein gespeist und getrunken und hat Geld wie ein Graf! Der Schwanenwirt hat ihn gefragt, ob er übernachten tät; hat aber keine Lust. Wollt mich mit dem Herrn in einen Diskurs einlassen; aber er hat mich über die Achsel angeguckt, daß mirs verging. Freilich, ist von hohem Stand. Bin neugierig, wies wird. Adjes! Auf dem Rathaus sprechen wir uns doch noch.

Auf dem Rathaussaal gings schon lustig zu. Im „Hoppelreihn“ walzten die stattlichen Bürgerssöhne mit den geputzten Jungfrauen, und an den Wänden entlang saßen alte und junge Mütter und wartende Töchter und beobachteten mit der ausführlichsten Gründlichkeit den unberechenbaren Kreislauf der hüpfenden Gestirne. Als die Frau Hübner mit ihrem Söhnchen an der Hand neben Jungfer Ursel in den Saal trat, kam ihnen die Frau Lautensack außerordentlich vergnügt entgegen: „Kommt nur, habn Euch Platz frei gehalten! Dein Besuch wird seinen Platz net lang behaupten; die Jungfer Urschel sticht heut alle aus.“ Bald gesellte sich auch die Hommelschristel noch dazu, und nun war die Herrlichkeit fertig. Die Männer waren vorerst in die Gaststube gegangen, wo sie den Schreiber des Amtsschössers, Herrn Cremer, trafen, sich mit ihm zusammensetzten und bei einem Krug Bier sich in Gemeindeangelegenheiten ergingen.

Nach dem „Hoppelreihn“ spielten die Musikanten den „Pulverstoffel“ auf. Ein stattlicher Bursche holte sich Jungfer Ursel. Nun steckten die Zuschauerinnen die Köpfe zusammen, und manche Tänzerin verzog den Mund, als hätte sie in einen Holzapfel gebissen; es wollte sichs aber keine merken lassen. Die „Siebensprüng“ und einen anmutigen „Schleifer“ tanzte Ursel noch, wurde aber immer ernster und gestand dann leise der Frau Hübner, daß sie am liebsten davon laufen möchte, es komme ihr ordentlich eine Angst an. Ob sie die auffällige Beobachtung von allen Seiten beengte, oder ob der Neid, der aus dem Gesicht dieser oder jener Tänzerin sprach, ihr unangenehm wurde, sagte sie nicht. Auf Zureden der Frau Gevatterin, der Hommelschristel und der Frau Lautensack gab sie aber der Aufforderung des jungen Herrn Lautensack nach und tanzte mit ihm den „schwäbischen Langaus“, auch „Schweinauer“ oder „Haxenschlager“ genannt, einen Solotanz, bei dem Jungfer Ursel sich ruhig allein fortdrehte, indes sie der Herr Lautensack mutwillig umkreiste, mit den Füßen stampfte, mit den Händen den Takt auf Schenkeln und Knien schlug, oder die Tänzerin unter seinen Armen hinwegtanzen ließ.

Während dieses Tanzes war Marschall Hans in ritterlichem Aufzug in den Saal getreten. Er hielt sich so gut, als es möglich war, in der Menge verborgen; aber seine Augen schossen Blitze auf die graziös Tanzende. Der Schneider hatte den beiden Ratsherren in großer Aufregung mitgeteilt, daß eben der „fremde Graf“ auf den Tanzboden gegangen sei, und beide Herren und der Schreiber folgten sofort dem Schneider in den Saal. Als scharfe Beobachter standen sie dicht hinter dem auffälligen Fremden. Ursel wurde nach Beendigung des Tanzes von einem Knäuel Frauen umringt, unter denen natürlich die Hommelschristel und die Frau Lautensack vorherrschend das Wort führten. Diesem Kreis war der Fremde, der bereits von vielen begafft wurde, noch unbemerkt geblieben, als ein rasender Zweitritt aufgespielt wurde.

Da stoben die Frauen von Ursula hinweg auf ihre Plätze, sodaß diese plötzlich allein stand. Und in diesem Moment stand wie das Wetter Marschall Hans vor dem braven Kinde von Heldburg.

Ein Schrei des Entsetzens entfuhr dem Mädchen beim Anblick des wie vor ihr hingezauberten „wilden Reiters.“ Aber die Musik und das Getöse milderten den Schrei; überdies hatte außer den beiden Ratsherren und der Frau Hübner niemand die leiseste Ahnung von der Ursache des Schreckens. Wer den Schrei gehört hatte, hielt ihn eben bloß für den Ausdruck einer Überraschung; und wen hätte denn der vornehme Herr nicht überrascht? Es war dem Mädchen unmöglich, zu fliehen; denn schon im ersten Augenblick ihres Schreckens hatte es Marschall Hans fest umschlungen wie mit eisernem Arm und stürmte, es über den Boden hin fast tragend, durch den Saal.

Es ist der Blüte, die der Sturm über Berg und Tal führt, versagt, wieder an ihren Zweig zurückzukehren. Erweckte die physische Kraft des abenteuerlichen Jünglings in Ursel das Gefühl der Ohnmacht, so führte der ihre Wange berührende Bart und der sie treffende Odem in ihrem Kopf eine vollständige Verwirrung herbei. Als der stürmische Tänzer sich zu einer kleinen Pause aufstellte, stand seine Tänzerin willenlos, mit niedergeschlagnen Augen bebend an seiner Seite.

Sei gut“, flüsterte er ihr ins Ohr, „sei gut, mein Herz! Die schönen Maien vor deinen Fenstern habe ich dir setzen lassen.“ Seine Lippen berührten ihre Wange.

Mochte die Erinnerung an die Maien in dem verwirrten Kopf der Jungfrau einen festen Punkt geschaffen haben, von dem plötzlich ein Blick der Klarheit ausging, oder brachte sie der heimliche Kuß, der ihr auf der Wange brannte, wieder zu sich: mit einem Satz war sie von der Seite ihres Tänzers hinweg und hing weinend am Halse der Frau Hübner. Die beiden Ratsherren, der Schreiber und der Schneider standen noch in der Nähe der Tür mit offnen Mäulern, als der Marschall Hans an ihnen vorbeischlüpfte und sich aus dem Staube machte.

Nun traten sie auch an die Jungfrau Ursel heran. Herr Michel Böhm schlug vor, sich sofort nach Haus zu begeben.

Freilich, freilich! 'S wird heut doch net wieder Pfingsten; komm, Urschel! Daheim bei uns wirds dir wieder besser.“ Frau Hübner sagte der Hommelschristel und der Frau Lautensack „Gutnacht“ und verließ mit ihrem Eheherrn und ihrem Besuch, den kleinen Michel an der Hand, ärgerlich das Rathaus.

Der Schreiber begab sich wieder in die Gaststube zu seinen Verwandten, und auf dem Tanzboden ward angestimmt: „Ein edler Jüngling wohlgemut.“

Die kleine verstimmte Gesellschaft schritt eben der Hübnerschen Türtreppe zu; da sprengte der „wilde Reiter“ vorüber. Es ward ein schriller Pfiff gehört. Ursel klammerte sich zitternd an ihren Vater an. Die verhallenden Hufschläge drangen ihr wie Pfeile ins Ohr.

Kommt, Herr Gevatter!“, sagte Herr Hübner und wollte die Haustür öffnen. Aber siehe da, diese war unverschlossen.

Hätt ich den Schlüssel abgezogen und hätt net zugeschlossen?“, brummte der Ratsherr und wandte sich um nach seiner Ehewirtin: „Hast du net gemerkt, Alte, ob ich das Haus verschlossn hab, als wir gingen? Die Tür iſt unverschlossen.“

In diesem Augenblick stürzten zwei Männer aus dem Haus und verschwanden in der Nacht. „Spitzbuben, Räuber, Hilfe!“, rief der Ratsherr. Und der Schneider, der von dem Ratsherrn noch ein Gläschen Branntwein zu bekommen gehofft hatte und auch mit vor der Treppe stand, machte einen herzhaften Anlauf zur Verfolgung der Diebe, kam aber bald keuchend zurück mit den Worten: „Sind über alle Berge! Laufen wie des Grafen Pferd.“

Des Grafen Pferd? Spitzbubenbande! Habt ihr net den Pfiff gehört, Nachbar?“

Millionendonnerwetter! Hätt ich das gewußt, ich hätt den Kerl in der Schwanen angenagelt!“

Pfingsten is vorbei! Ihr Leut, ihr Kinner!“

Kommt nur, Herr Gevatter! Seht nach, was fehlt! Seht nach Euerm Geld!“

Das habn Sie net gfunden, Herr Gevatter! Wills Euch beweisen.“

Die Männer traten ins Haus. Ursel war nicht zu bewegen, eher einzutreten, als bis Licht gemacht war. Der Ratsherr Hübner zündete eine starkgehäusige Laterne an und führte seinen Gevatter in seine Schlafkammer. In die Stube zurückkehrend, sagte Herr Böhm: „Gut verwahrt, Herr Gevatter! Mögen ihre Arbeit wohl noch nit lang angefangen habn, die Kujone!“

Natürlich! Ihr Meister, meines Nachbarn Graf, hat die Spitzbüberei selbst verdorben.“

Hätt ich das gewußt, angenagelt hätt ich den Kerl!“, rief zornig der Schneider.

Das würd Er wohl haben bleiben lassen, Schneider!“, entgegnete der Ratsherr Michael Böhm; „hab vergangne Woche die Vögel gar sonderbar pfeifen hörn auf dem Rathaus in Heldburg.“

Seht Ihrs, Herr Nachbar?“, sagte die Frau Hübner; „'s is nix mit dem Grafen, und 's is nix mit dem Annageln.“

Was habt Ihr gehört, Herr Gevatter?“, fragte Hübner.

Wart einmal! Erst wolln wir uns setzen, her an den Tisch! Nehmt Platz, ihr Leut! Ich hol eine Kanne Bier, und hernach erzählt unser Herr Gevatter! Jungfer Urschel, kommt her, der gebrannt Finger heilt nun einmal heut net!“, kommandierte die freundliche Hauswirtin, schob die Stühle zurecht, stellte ein Licht auf den Tisch und ging mit der großen Laterne in den Keller.

Wollt Ihr ein Schlückchen von meinem Würzburger Tränklein, Jungfer Urschel? Könnte nichts schaden auf den Schrecken“, fragte fast zärtlich Herr Hübner.

Ei ja wohl, Herr Nachbar! Er ist ein kluger Mann und weiß immer Rat“, stimmte aus Herzensgrund der Schneider bei. Der kleine Michel zupfte am Kamisol seines Vaters und sagte ihm ins Ohr, als er sich zu jenem Söhnlein niederbog: „Ich war am meisten erschrocken!“

Glaubs, Michel“, sagte lächelnd der Vater, „sollst auch deinen Part kriegen.“

Frau Hübner brachte die große Kanne mit Bier, und als sie sah, daß ihr Eheherr sein grünes Gläschen gefüllt und der Jungfer Ursel zugeschoben hatte, meinte sie: „Das brennende Zeug da ist gut, Urschel, is Arzenei und stärkt die Glieder; mein Valtin hat etliche Krüglein von Würzburg aus der Apotheken mitgebracht.

Nix Bessers, Frau Nachbarin! Ist gut gegen Hitz und Kält, gegen Schrecknis und Ärger, Blähung und kalte Füß!“, führte der Schneider weiter aus, „mein Herr Nachbar hat michs schon etlichemal versuchen lassen.“

Das grüne Gläschen machte die Runde; dann hielt man sich ans Bier.

Und, nun, Herr Gevatter Böhm, was haben die Vögel Sonderliches gepfiffen auf dem Heldburger Rathaus?“, fragte neugierig Frau Hübner.

Der Gefragte legte den Finger so kraftvoll an die Nase, daß sie sich auf die Seite bog, riß die Augen weit auf und teilte mit, daß auf dem Straufhain eine Spitzbubenbande hause, deren Oberster ein Meister der schwarzen Kunst sei.

Und unsers Schneiders Stafette oder Graf ist der Hexenmeister! Ich wollte Gift drauf nehmen“, platzte der Ratsherr Hübner heraus, dessen Ehewirtin die Hände zusammenschlug und rief: „Ihr Leut, ihr Kinner!“

Jungfer Ursel starrte die Ratsherren an und sagte leise, wie für sich: „Habs gspürt; er wollt mirs antun. Konnt erst net los kommn von dem Teufel. – Wie er aber sagte, die Maien hätt er mir setzen lassen, dacht ich gleich an alle Maien in der Stadt und an die Maien vor der Kirch und sah drin die Lichter auf dem Altar brennen und das Abendmahl austeiln – und da wurd ich meiner wieder mächtig und kam los von dem Bösen.“

Frau Hübner schlug einmal übers andremal die Hände zusammen und rief, als Ursel still war: „Herr Jesus! Herr Christus! Die Maien von einem Räuberhauptmann! Von einem Höllenbraten, von einem Hexenmeister! Ihr Leut! Ihr Kinner! Die müssen augenblicks vom Haus weg!“

Der Schneider rief: „Habt Recht, Frau Nachbarin, will den Knecht holn, daß wir die Höllenbirken flugs wegbringn!“ und entfernte sich eilig.

Unser Bürgermeister wollt nach Koburg, hat er auf dem Rathaus gesagt, und wollts melden von wegen dem Straufhain, und es wird ja wohl mit nächstem die Bande aufgehoben werden.“

Der Ratsherr Hübner hatte jedoch seine Bedenken: „So ein Meister der schwarzen Kunst gibt seinen Spitzbuben einen Schlüssel, der meine Haustür ohne weiteres schließt; so ein Satan braucht net einmal ein Pferd; der fährt im Zwirbelwind über Berg und Tal und läßt den Koburgern des Teufels Gestank! Den fangen? Was denkt Euer Bürgermeister?“

Die Frau Hübner stand auf und schlug ihren würdevollsten Ton an: „Alleweil schaffen sie die bösen Birken fort. Ich will mit Siebenbaum unser Haus ausräuchern, daß es wieder ein ehrbar christlich Haus wird, und nachher wolln wir beten.“ Sie ging mit ihrer großen Laterne.

Herr Gevatter! Liebste Jungfer Urschel!“, redete Herr Hübner seinen Besuch an, „nun wollten wir mit einander recht fröhliche Pfingsten halten, und Ihr habt bei uns soviel Leids erfahren müssen. Das macht mir Kummer!“

Aber der Heldburger Ratsherr hielt dagegen: „Liebwerter Gevatter! Das ist der Lauf der Welt. Träume sind Lügen. Und es sind noch nit alle schlafen, die heut eine böse Nacht haben sollen.“

Das Räuchergeschäft war zu Ende; alle besprengten sich mit geweihtem Wasser, das die Frau Hübner in der Nähe des großen Kachelofens aufgestellt hatte; und nun schloß sich wieder der Kreis am Tisch, und der Hausherr las aus einem alten Büchlein „ein fein Gebetlein wider den Bösen und all sein Werk, insonderheit wider Zauberschlüssel und Zauberbann, wider Diebs-, Räuber- und Hexenkünste, wider Gehilfen und Gehilfinnen jeglicher Art des Satanas, so umhergehet und suchet, wen er verschlinge – ist mit kräftigen Sprüchen der heiligen Schrift verzieret und verbrämet.“

Auf dem Rathaussaal tanzten sie eben nach dem Lied: „Aber als der Barbier kam.“

In dieser Nacht verkroch sich Urſel bis an die Nase in ihrem großen Bett. Die Erlebnisse dieses Abends hatten in dem wunderbaren Gemüt einen Aufruhr verursacht wie Sturm und Überschwemmung in einer Frühlingslandschaft. Es kam dem erregten Kinde vor, als wäre sie lange Zeit schon von ihrer Heimat und ihrer lieben Mutter gerissen. Heiß stieg es ihr aus dem Herzen in den Kopf und vom Kopf hinab ins Herz: eine gewaltige Sehnsucht kam zum Ausbruch. Die Decke über den Kopf ziehend, begann Ursel vor Schmerz laut zu schluchzen. Als der Schmerz ausgetobt hatte, zog der Frieden ein in ihre Brust. Ein schöner Traum zog die Decke hinab von dem tränennassen Gesicht.

Der Morgen goß ungehindert seine Lichtfülle in die Schlafkammer der Jungfrau Ursel; ein erquickender Schlummer hatte die Sturmspuren vertilgt und in den Gliedern die Jugendspannung wieder hergestellt: die blauen Augen blickten mit einem milden, unergründlichen Glanz in den Tag hinein, und es floß von den roten Lippen ein leiser Gesang:

 

Zog ein armes Waisenkind

Aus der Heimat in die Fremde,

Und des Winters kalter Wind

Spielte mit dem weißen Hemde.

Armer Knabe, komm herein,

Will ein Schwesterlein dir sein!

 

Kannst mein Schwesterlein nit sein,

Muß den lieben Heiland suchen,

Sitzt an einem Brünnelein,

Wo die Englein Wasser trugen. –

Ach, das Brünnlein ward zu Eis,

Niemand mehr das Brünnlein weiß.