Martin Bötzinger. Ein Lebens- und Zeitbild aus dem 17. Jahrhundert

 

Vierundzwanzigstes Kapitel

Schwül

 

Lange Kleider, kurzer Sinn“, hatte der Pillenhändler gesagt. Und des Herrn Jonas Pürtzel Erzählung seiner Erlebnisse in Unterschwappach stellte sich nun als Illustration zu diesem Sprichwort. Martin Bötzinger hatte in dem Marschall Schweigmund von Unfind den Spitzbubenmarschall Hans und in seinem Diener Hinz den ehemaligen Schatzmeister vom Straufhain erkannt. Und für den Spitzbubenmarschall und den ehemaligen Saalbackfisch hatte der Vogt von Rügheim eine Hochzeit in optima forma prophezeit. Aber aus dem Backfisch war ein Edelfräulein und darnach die Tochter des Landjägermeisters von Rudolstadt geworden, und der Spitzbubenmarschall hatte sich zu einem Marschall Schweigmund von Unfind emporgeschwungen. Auf der Heimfahrt von Königsberg gaukelten beide Gestalten vor dem innern Auge des Martin Bötzinger in allen Stadien ihrer Metamorphose. Manchmal kam der Saalbackfisch zusammen mit dem Ritter von Unfind, und manchmal der Schneiderhans von Mupperg mit dem Edelfräulein, und sie tanzten zuweilen höhnend und lachend auf der weißen Schneefläche dahin, zuweilen schwebten sie mit großen Fledermausflügeln in der Luft gerade über Bötzingers Haupt. Und das Schellengeläute klang lustig dazu und beschwor die Pritschmeister vom Stahlbogenschießen herauf. Wenn sichs dann zum tollen Reigen verschlang, und der Kutscher knallte mit seiner langen Peitsche, oder der Herr Schösser redete den Träumer an, dann zerstob alles. Gaukelspiel!

Nur das war kein Gaukelspiel, was als Klagegesang unserm Simplicius durchs Herz ging:

 

Sie gruben vierzig Jahre,

Dann starben sie zugleich:

Sie lagen auf der Bahre,

Von Harm und Harren bleich.

 

Ursula Böhm von Heldburg, des Ratsherrn sittsam Töchterlein, kam und legte einen Kranz von Rosmarin, Muskatblättlein und Gelbveigelein auf die Bahre.

Dieser Klagegesang ward für den folgenden Sommer in Martin Bötzingers Gemütsleben die Grundstimmung. Er maß alle Vorgänge im Leben nur noch an dem Lied von der Treue.

Wenn er auf der fränkischen Leuchte der untergehenden Sonne nachsah, rief er: „Du bist treu! Du kehrst immer wieder. Ich konnte nicht wieder kommen; mich haben sie hinausgestoßen. Doch ihr Stolz ward gebrochen. Und wenn sie mich zurückgerufen hätten? Nicht hätte ich kommen können, weil ich untreu ward. Sie kannten meine Untreue nicht und haben mich nicht gerufen, und des Landjägermeisters Kind hat sich an eine Lüge gehängt. Ich bin frei! An eine Lüge gehängt? Ist der Marschall Schweigmund von Unfind eine Lüge, so ist dieser Name nicht die markige, schöne, ritterliche Gestalt, nicht die Seele in diesem wahrhaftigen Leib, die Seele, die von wahrhaftiger Liebe, von Treue erfüllt sein kann. Der Hauslehrer von Birkig war keine Lüge; aber die Seele ist vom Pfade der Treue gewichen. Trug sie den Wurm von Anfang an in sich, daß sie der Macht entbehrte, worin die Treue der andern Seele wurzelt? Oder war auch die andre Seele zu arm, um in mir die Treue zu bauen trotz Hohn und Verachtung? Mächtiger ist des Heldburger Kindes Inneres, mächtiger wohl auch die Seele des Marschalls. Dem stärkern Zuge folgte Susanna; der größern Macht neigte auch ich mich. Ich bin für sie kein Verlust. Aber was bin ich für Ursula Böhm, die nun alles für mich ist? Ich bin für sie ein Untreuer: sie hat mich an das Edelfräulein zurückgewiesen. So heftet sich an meine Schritte das schwarze Verhängnis! Von Kindsbeinen an ist das mein Los. Jenem Weib, das wie eine Mutter an mir tat, ist meine Hingebung zum Tode auf dem Scheiterhaufen gediehen und meinem Spielgenossen zum Fluch. Und nun sieht sich die, für die ich in den Tod gehen könnte, durch meine Liebe betrogen. Was fange ich an? Wo berge ich mich vor dem furchtbaren Arm des mich verfolgenden Schicksals?“

Martin Bötzinger mied soviel als möglich die Stadt und überhaupt jede Gelegenheit, die auch nur entfernt die Möglichkeit einer Begegnung mit der Jungfer Ursula Böhm hätte in sich schließen können. Außer seinen Unterrichtsstunden war sein Leben stille Arbeit und stilles Sehnen.

Aus dem Hause des Ratsherrn Michael Böhm war seit der Einkehr des Landjägermeisters von Rudolstadt alle Freudigkeit gewichen. Das Leben schleppte sich an der Arbeit hin wie ein Krüppel an seinen Krücken.

Die Lise hatte dem Zacher erzählt, daß sies seinem Vater gestanden, und was er gesagt habe, und Zacher hatte ihr dafür einen Kuß gegeben. Das war einmal spät nachts geschehen auf dem Futtertrog, als die Herrschaft schon schlief. Denn nur in solchen Stunden vergaß dies treue Gesindepaar des Hauses traurigen Ernst. Es war, als spänne sich an diesem Pärlein einstweilen des Hauses Herzigkeit heimlich fort zu einer spätern frischen Entfaltung. Der Ratsherr Michael Böhm schien durch die Einladung der Frau Landjägermeisterin an den Hauslehrer Martin Bötzinger zu einem Besuch nach Rudolstadt seiner schönsten Hoffnung beraubt zu sein. Seine Vermutung, daß die Tochter des Landjägermeisters das Fräulein sein möchte, von dem der Edle von Birkig beim Thorbeck in Koburg gesprochen hatte, war durch seine Ehewirtin bestätigt worden, der in einem vertrauten Stündlein Ursula die Äußerung des Fräuleins mitgeteilt hatte: „Der Martin Bötzinger freit um dich? Ich kenne ihn auch.“

Eines Mannes Inneres wird nicht so leicht vor der Welt offenkundig. Aber die Frau Böhm, wenn sie als Seele des Hauses am Herd waltete, ward öfter von dieser oder jener Nachbarin nassen Auges getroffen. Die Eltern litten sehr um der Tochter willen; denn sie kannten dieses Herzens Leidenschaft.

Wie hätte nun der Vater den Auftrag der Frau Landjägermeisterin auszurichten vermocht? Er mied den Hauslehrer und mied also auch die Festung, sodaß der Herr Schösser sich Skrupel machte und sich zum öftern fragte, was er etwa dem Ratsherrn Michael Böhm in den Weg gelegt haben könnte.

Ursel ging mit zur Arbeit auf das Feld oder half der Mutter im Hause – ernst und schweigsam. Sie hatte entsagt. Aber täglich und stündlich schrie das Herz auf. Und täglich und stündlich hatte sie es niederzukämpfen. Sie kämpfte den verborgnen Kampf als Heldin. Aber ihre Wangen wurden bleich.

So hatte sich wie ein Bleiberg schon ein Jahr trennend zwischen die Familie auf der Feste und die andre im Städtlein unter der Feste geschoben. Und der Berg ließ nichts hinauf und nichts herunter und wich und wankte nicht, und kein grünes Gräslein wuchs auf ihm.

In Römhild trommelte der Ratsherr Valtin Hübner am Fenster und pfiff Trompetenfanfaren vom Koburger Stahlbogenschießen her. Aber sein Nachbar, der Flickschneider, ärgerte sich diesmal nicht darüber; denn er war nicht zu Hause. „Wers kann, dem kommts“, sagte er eben zur Frau Lautensack, der er ihre ausgebesserte Schope gebracht hatte. „Ich sags immer; Sie kann sich eine Schnur aussuchen. Und die Böhms-Urschel in Heldburg wär was für Ihren Peter. Wers kann, dem kommts.“

Gelte? Habs dem Peter schon hundertmal gsagt. Wie er selmal den Schweinauer mit ihr getanzt hat, hab ich gedacht: Ein prächtigs Pärlein! Und es hätt sich schon noch geschickt, wenn der Gottseibeiuns nicht dazwischen gfahrn wär. Jene Pfingsten vergeß ich net. Aber der Peter hat immer gedacht: sie wird schon einmal wiederkommen.“

Frau Lautensack!“, rief der Flickschneider, „wers kann, dem kommts. Aber wenn der Peter warten will, bis die Urschel einmal wiederkommt, so kann ers net. Er muß vor die Schmieden rücken. So ein statiöser Herr wie der Peter, mit einem solchen Anwesen, braucht nur einmal nach Heldburg zu gehen und beim Ratsherrn Böhm anzuklopfen, so ist die Sache so glatt, als wenn ich mein Bügeleisen nehm.“

Freilich, freilich! Die Frau Hübner hats auch gesagt.“

Dieses Gespräch hatte seine Folgen. Nach der Schnitternte, an einem Sonntagnachmittag, als Ursel im obern Stübchen hinter den Muskatblättlein und Rosmarinstengeln am Fenster nähte, und der Zacher und die Lise an ihren Truhen ihr Gespartes zählten, und die Frau Böhm vor einem Haufen Linsen am Tische saß, sie zu lesen, und der Ratsherr im großen Armstuhl ein wenig eingeschlummert war, trat Peter Lautensack von Römhild in die Stube.

Da mich mein Weg vorbeiführt, wollt ich doch einmal einkehrn. Euer Gevatter Valtin Hübner wird sich freun, wenn ich sagen kann, wies bei Euch geht.“

Der Ratsherr Michael Böhm hatte sich erhoben, gähnte und sagte: „So ist Er wohl von Römhild? Ist Er befreundet mit meinem Gevatter?“

Meine Mutter ist befreundet mit der Frau Hübner.“

Ei so! Seine Mutter ist wohl die Hommelschristel!“

Lautensack – Lautensack heiß ich. Hab mit Eurer Jungfer Tochter selmal den Haxenschlager getanzt. Und da war die Hommelschristel auch dabei. 'S ging heckenhoch! Meine Mutter sagt immer, sie könnt die Böhms-Urschel von Heldburg net vergeß.“

Ich denk net gern an jene Pfingsten“, sagte die Frau Böhm und strich dabei über ihre Schürze, als ob Staub darauf gefallen wäre.

Dem Herrn Lautensack wurde die Hausehre angetan. Es wurde Brot und Käs und Bier vorgesetzt. Auch die Jungfer Ursel wurde herbeigeholt. Der Herr Lautensack sprang auf und wollte seine Pfingsttänzerin recht lustig begrüßen; aber die Lust blieb ihm in den Knochen sitzen, als er in dieses Antlitz blickte. Er wußte nicht, was er sagen sollte. Als er wieder bei dem Käs und Brot saß, faßte er sich ein Herz und sagte: „Es ist wahr. Meine Mutter sagt immer, sie könnt die Böhms-Urschel von Heldburg net vergeß.“

Die Jungfer Ursel verzog sich bald wieder in ihr Stübchen. Der Ratsherr aber, da es Sonntag war und überflüssige Zeit und Langeweile sich gleichen wie ein Ei dem andern, begleitete nach einem Stündchen inhaltlosen Geplauders den Gast von Römhild ein Stück seines Weges.

Abends auf dem „Fürstlichen Haus“ saß der Ratsherr Michael Böhm beim Schoppen neben dem Organisten Nikolaus Fleischmann. „Ist mir eine große Freude, Herr Böhm“, sagte der Herr Organist dem Ratsherrn ins Ohr, „was ich heute gehört habe. Wünsch Glück zur Freierei! Aber der Schwiegersohn muß nach Heldburg ziehn; Er wird doch seine einzige Tochter nit fortlassen?“

Er weiß ja mehr wie ich, Herr Orgelist! Ein Brieflein wäre gut dabei.“

Der Ehestand ist der heiligste Orden, sintemal er alle andern Orden in sich hat. Und die langsamen Märkte werden gern gut.“

Aber der Herr Böhm entgegnete: „Mach Er mir keinen Bart von Stroh. Und erzähl Er net weiter, was net wahr ist!“

Der Herr Organist lachte und warf hin: „Erfahren wirs nit neu, so erfahrn wirs doch alt.“

Der Ratsherr war nicht imstande, seinem Nachbar am Weintisch die im Gehirn festsitzende Neuigkeit zu zerstören. Freilich, eine so überraschende Neuigkeit läßt man sich nicht gern in eine Lüge umwandeln, am wenigsten von dem, ders am sichersten könnte, weil man ihm nicht traut.

Es half keine Anstrengung im Kampf gegen die Wucherung des Gerüchts: „Der junge Lautensack von Römhild hat das Jawort zur Freierei beim Ratsherrn Böhm geholt.“ So gings von Haus zu Haus, auf die Berge und in die Gründe. So drang es auf die Festung: und der Hauslehrer stöhnte vor Schmerz. So drang es nach Gompertshausen; und die Lindenelsa rief: „Ach du liebstes Gottle! Das wird ein Unglück! Und das wird noch ein Unglück!“

Über dem Bleiberg drüben – auf der Festung – zog durch ein Fenster die Klage hinaus in die dunkle Nacht: „Sie geht nach Römhild!“ Und der Eulenvater und seine Ariadne hörten es und erzähltens ihren Jungen, und der Klageschrei drang weiter von einem Eulenberg zum andern und bis in den Thüringerwald hinein nach Rudolstadt. Und über dem Bleiberg hüben – hinter Rosmarin und Muskatblättlein seufzte es: „Er geht nach Rudolstadt!“ Und die Schwalbe hörte es, und ihr Abschiedslied für diesen Sommer lautete:

 

Es blaut die Schleh;

Bald kommt der Schnee:

Mich treibt der Frost ins ferne Land.

Es bleicht vom Weh

Das Kind - Ade!

Mich treibt sein Leid von Strand zu Strand

Da bleib ich nit -

Geh mit, geh mit!

 

Als die Schwalbe so sang, fuhr die Lindenelsa vorbei. Aber sie sah sich nicht um; denn sie grollte mit diesem Hause. „Meine Gute, meine Treue ist mir untreu worden! Sie freit und fragt mich net. Sie freit und fragt net Hund noch Narr! Hab ich das verdient? Der Ratsherr hätt soviel Verstand haben solln. Hat der auch vergessen, wie ich gelenkt und gemacht und mich abgerackert hab? – Sola! Sola! – Wenn Ihr die lahm Magd net braucht, seid Ihr der Ratsherr. – Urschel! Urschel! Du schätzt net ab, was du getan hast mit deiner Hiegabet? Urschel! Urschel! du bereusts. Was ist über dich kommen? – 'S wird ein Unglück, und es wird noch ein Unglück! Aber ich will dafür sorg, daß der Katz der heiß Brei weggesetzt wird. Der Ham will ich 'n Stiel mach. Ich gelt euch nix mehr? Wills euch beweisn, wers besser versteht, der Ratsherr oder die lahm Magd. Die Hiegabet zerreiß ich vor euern Augen Und nachher sollt ihr lachen vor Freud! Ja ja! Lachen tut ihr alle! Und nachen bin ich wieder die Lindenelsa hinten und vorn. – Jüa, Fritz! Sackerlot, Fritz! Freilich gehts auf de Festing! Schüttel nur net! – Jüa! Kann dir net helf! Wir müssen nauf, und wenns gleich unser Letzts wär!“

So sprach die lahme Magd von Gompertshausen mit sich selbst und mit ihrem Gaul, als sie den Festungsberg hinanfuhr. Oben angekommen, ließ sie ihren Gaul einstellen und verordnete ein Hafertraktament für ihn. Dann wurde sie auf das Zimmer des Hauslehrers gebracht. Da fand hinter verschlossener Tür unter dem Vorsitz der Gompertshäuser Großmacht die denkwürdige Konferenz statt, von der das Protokoll nicht aufzufinden ist, und von der darum nicht weitere Mitteilung gemacht werden kann. Aber ihre weittragenden Folgen werden sich aus dem fernern Verlauf unsrer Geschichte deutlich genug ergeben. Es ist nur bekannt geworden, daß die lahme Magd von Gompertshausen, als ihr von zwei Festungsmägden auf den Karren geholfen war, und sie ihrem Gaul „Jüa, Fritz!“ zugerufen hatte, die Worte hatte fallen lassen: „Will dem Lautensack schon die Laute zerschmeißn!“ Ihr ferneres Selbstgespräch verstand weder der alte Fritz, noch die Elsa selbst; denn die Klapperstecken ihres Karrens machten einen Lärm, der sich nur mit dem Zeitungsgeklapper unsrer Tage nach einer Konferenz der Weltmächte vergleichen läßt.

Am Fuße des Berges hielt Elsa und wartete, ob nicht jemand käme, ihr die überlaute Hemmung am Karren abzustellen. Es war just an der Stelle, wo vor Jahr und Tag in nächtlicher Dunkelheit Ursel auf den Herrn Martin Bötzinger gestoßen war und ihn mit den Worten von sich gewiesen hatte: „Laßt Euch vom Edelfräulein erlösen!“

Die lahme Magd brauchte nicht lange zu warten. Von den Heidenäckern her kam Zacher und brummte vor sich hin: „Wenn sie nur net 'nmal bei uns einstelln will; ich kann ihr alts Luder net leidn!“ Als er an den Karren herankam, rief er: „He, Elsa! Wo fuhrwerkt Ihr röm? Wie könnt Ihr das alt Tier auf die Festing schmeißn? Ihr wißt keine Gäul net zu behandeln; das laß ich mir net ausstreit.“

Elsa wandte sich nach dem Sprecher um, machte kleine Augen, fuhr mit ihrer krummen Gichthand übers Gesicht und erwiderte höhnisch: „Was du net sagst, du kluger Zacher! Von deinen Gäuln will ich gar nix verstehn. Aber du verstehst auch nix von meinm Gaul. Hast ja selmal gestriegelt und gebürst und wolltst 'n glatt und statiös machn, meinn alten Fritz. Die lahm Magd von Gompertshausen mit ihren krummen Gichthänden kann seinn glatten Gaul brauchn; das weiß gar mei Fritz. Denn der weiß, daß mich das fahrend Ding hat, und er hat Mitleid mit mir; drum ist sein Gewand so widerbürstig. Der weiß auch, daß ich auf die Festing hätt gemüßt, und wenns auch unser Letzts gewesen wär. Der weiß auch, daß mich kein Esel naufgtragen hätt, und wenn er so groß wär wie der Zacher da. Das weiß der neugscheit Zacher alles net. Der versteht nix von meiner Gicht und versteht nix von meinem Gaul.“

Wenn aus Euern Händn a bißla Gicht rausführ und in Euer Zunge, dös müßt Euch gut tun!“, sagte Zacher und wollte seines Weges gehn. Aber Elsa rief: „Zacher, sachte! Wenn du auch nix von der Gicht verstehst und von meinm Fritz: im Bösen wolln wir net aus einander. Tu mir meine Klapperstecken raus!“

Zacher kehrte um und stellte die Hemmung ab. Als er fertig war, neigte sich die Elsa nach ihm hin und fragte in wehmütigem Tone: „Zacher, was macht die Böhms-Urschel?“ Da kratzte sich Zacher hinterm Ohr und verzog sein Gesicht, als hätte er Zahnschmerzen. Er sah sich um, als wenn er untersuchen wollte, ob die Luft rein sei; dann sagte er gedämpft: „'S ist ne sakermentsche Wirtschaft! Ich sag, 's ist dem Haus angetan. Und ich hab auch schon der Lise gsagt: Räucher! nimm Bärmutter, Himmelbrand, Wetterglocken - siebenerlei hab ich gesagt. Aber es ist verbliebn.“

In euerm Haus tanzt doch itzund die Wurst auf dem Pfannkuchen, he? Und das gfällt dir net, Zacher?“

Die Leut sagens, weil der Lautensack von Römhild da war. Aber unser Frau hat zur Lise gsagt, 's wär alles erlogen. Und die Jungfer Urschel sieht net gut aus und flennt noch immer heimlich, sagt die Lise.“

Zacher, für die Red macht ich dich zu meinm Kämmerer, wenn ich ne Königin wär. Hi hi hi! Geh nur, Zacher! Ich halt a weng bei euch an. Kannsts der Lise sagn, daß sie net zu räuchern braucht.“

Elsa, Ihr habt kein Bedauerns – net mit Euerm Gaul und net mit der Urschel. Die flennt, und Ihr lacht.“

Ärgerlich ging Zacher von dannen und brummte: „Die lahm Magd von Gompertshausen ist 'n bös Weibstier! Sie sollt mir net über die Türschwelle, wär ich der Ratsherr.“

Und die lahme Magd sagte: „Jüa, Fritz! Der Urschel muß ich den Kopf zurecht richt. Und den Leuten wolln wir die Mäuler stopf.“

Vor dem Hause des Ratsherrn Michael Böhm hielt die lahme Magd von Gompertshausen an. Bald kam die Lise und half ihr von ihrem Karren und die Treppe hinauf in die Stube. Der Ratsherr war allein und eben in Gedanken auf und ab gegangen.

Läßt Sie sich auch einmal sehn?“, redete er die Eintretende an.

Ei ei! Herr Böhm! Wie gehts in der Welt zu! Hihihi! In Euerm Haus wird Zucker und Mandelkern gstreut. Da tanzt die Wurst auf dem Pfannkuchen. Aber unsereins hat 's Nachsehen und wischt sich 's Maul. Wenns einmal lustig hergehn soll, wär mir 'n Lautenschläger immer lieber wien Lautensack. Was sagen denn die Heldburger Krautsäck dazu?“

Der Ratsherr begann wieder in der Stube auf und ab zu gehen. Wenn er nicht Respekt vor der Gicht gehabt hätte und vor den krummen Händen, so hätt er vielleicht dem Weibe die Tür gewiesen.

Weiß Sie was?“, fragte er endlich. „So geht das in der Welt zu: wer auf der Brücken sitzt, dem wird der Fuß net naß.“

Und er begann etwas rascher auf und ab zu gehen. Elsa humpelte ihm in den Weg und sah mit ihren großen dunkeln Augen zu dem Ratsherrn empor und sagte in feierlichem Tone: „Die lahm Magd von Gompertshausen ist ein erbärmlich Ding, net wahr? Aber sie sitzt net auf der Brücken! 'S Wasser ist mir manchmal über dem Kopf zusammengschlagen. Und 's bittre Wasser hat mir Runsen ins Gesicht gerissen, wie 's Gewitter auf dem Acker. So iſts nix, und so wirds nix. Ich komm von der Festing. Wo ist die Jungfer Urschel?“

Der Ratsherr ward von der plötzlichen Veränderung des Weibes ergriffen. „Meine Tochter ist mit der Mutter in die Birnen am Lerchenberg. Setz Sie sich, Elsa! Sie werden bald wiederkommen.“

Elsa warf sich in den Armstuhl und sah still vor sich hin. Nach einer Weile fragte der Herr Böhm: „Was bringt sie Neues von der Festing?“

Neues? Hat er die Neuigkeiten noch net satt? Alts bring ich. Und mein Alts ist so kräftig und gsund wie alter Wein, und so heilig wie ne alte Kirch.“

Es gab wieder eine längere Pause. Dann fragte der Ratsherr: „Was hat Sie denn auf die Festing getriebn?“

'S Wasser! 'S wollt mir zu hoch und über den Kopf da unten in dem Grund. Da bin ich auf die Höh gefahrn und hab ihm ins Ohr gpispert: Sie freit nach Römhild! Sie nimmt den Peter Lautensack.“

Der Ratsherr tat rasch einige Schritte nach dem Armsessel zu und rief: „Sie ist wohl toll? Wer nimmt den Peter Lautensack?“

Ich net! Und Er net, und die Frau Böhm net! Die Urschel nimmt den Peter Lautensack, hab ich ihm gsagt.“

Verfluchte Lüge! Pack Sie sich fort mit Ihrem Lautensack!“

Die lahme Magd blieb aber in größter Ruhe sitzen.

Sola, sola! Mit dem Peter ists nix. Vor der Stadt draußen hat mirs der Zacher auch schon gsagt. Die Jungfer Urschel ist nom zu habn? – Der Martin Bötzinger ist auch noch zu habn.“

Dem Ratsherrn schoß alles Blut nach dem Kopf. Dann wurde er blaß und sagte gedämpft: „Der geht nach Rudolstadt! Dieser Gedanke hatte sich in der Familie Böhm so festgesetzt, daß er als unumstößliche Tatsache galt.“

Er geht net nach Rudolstadt! Er geht net nach Rudolstadt!“, rief Elsa. Jungfer Ursel trat mit ihrer Mutter eben in die Stube. „Er geht net nach Rudolstadt!“ hatten die Eintretenden gehört. Ursel stand da wie versteinert. Elsa erhob sich, humpelte nach der Jungfrau hin und erfaßte ihre Rechte mit beiden Händen. Es rannen Tränen über die Wangen der aufgeregten Elsa. „Sola, ſola! 'S wird anders, Urschel! Ich muß dir den Kopf zurechtstelln, aber das kann ich net da; das kann ich nur in meiner Stubn in Gompertshausen. Komm morgen nachmittags, Urschel! Komm! komm! Ich war auf der Festing. Du warst Jahr und Tag in der Irrnis. Ach, du liebstes Gottle, war das 'n Elend. Nun weiß ichs, nun wirds anders. Komm morgen, komm!“

Elsa wurde von der Frau Böhm bewirtet, und dann fuhr sie nach Haus.

Der kahle Bleiberg zwischen Heldburg und der Festung kam in der folgenden Nacht ins Schwanken. Es war eine finstere, schwüle Nacht, just wie eine Gewitternacht; aber die Gewitter waren für dies Jahr heimgezogen. Die Nacht hatte ihren Mantel um die fränkische Leuchte geschlagen, und durch ein Knopfloch schimmerte das matte Licht des Hauslehrers, der von seiner rebellischen Phantasie in den Wolken hin und her geworfen wurde, als wäre der Himmel eine Kuhhaut, und die fränkischen Berge wären die „schupfenden Pritschmeister.“

Und der Eulenvater stand auf einem Bein neben seiner Ariadne und zog sich eine Flügelfeder durch den Schnabel und sagte: „Der Sperk des Hauslehrers hat heute gegen abend seiner Sippschaft erzählt, sein Herr habe sich heut nachmittag gebärdet wie ein Bartscherer, der seine Messer verloren hat. Ich halte dafür, daß dieser Mensch noch unter die Zigeuner geht. Ich möchte ihn für unsre Kinder nicht zum Informator haben. Was spricht Eure Weisheit dazu, verehrte Ariadne?“

Die Eulenmutter nickte mehrmals schweigsam und drehte ihren Steiß hinüber und herüber, und ihre Nickhaut zuckte über die großen Augen, und sie hub also an: „Mein weiser Herr und Gebieter, ich preise den Himmel, daß wir für unser Geschlecht des Informators ledig bleiben, denn das Dichtern und Trichtern, das Stopfen und Pfropfen ist des Menschengeschlechts Hirnfraß.“

Aber, meine holdselige Ariadne! werden – ledig der Information – Eure Töchter wie Ihr und Eure Söhne wie ich sein, weise blickend in die Vergangenheit und in die Zukunft?“

Das werden sie sein, mein sorglicher Herr! Denn ich hab es ihnen ins Ei gelegt, wie es einst unsre Mütter auch uns getan haben.“

Evoe!“, schrie der Eulenvater. „Evoe!“, schrie die Eulenmutter. Aber die Frösche in den Teichen der Gründe blieben stumm: sie hatten eine neue Generation gezeugt und waren müde, dazu satt vom Segen des Sommers.

Hinter Rosmarin, Marumverum und Mustkatblättlein lag Ursel, von weichem Flaum umhüllt. Ihr Harm stand still, als ob er sich besänne: das hatte die Elsa vermocht.

 

Kornmückle flieg,

Flieg auf und fort!

Ob ich einn krieg,

Frag hier und dort.

 

Flieg hin und her

Und find ihn bald

Und sieh, ob er

Noch nit zu alt.

 

Und mag er mich,

So sag mirs dann;

So ziehe ich

Mein Brauthemd an.

 

Dies Liedlein aus der Zeit, von der man nicht weiß, ob sie zum Kindes- oder zum Jungfrauenalter gerechnet werden soll, tauchte in der Erinnerung der Jungfer Ursel empor. Aber sie sang es nicht, denn sie hatte schier das Singen verlernt. Es zog ihr durch die Seele wie verlorner Frühlingshauch. O, es war wirklich der Odem des Lenzes: er war dieser Seele noch nie ausgegangen.

Ein sonniger Tag brach an. Die Lerchen wälzten sich im trocknen Sand, und die Spinnen hatten an den Hecken große Räder aufgehängt. Auf den Wiesen stiegen die Herbstzeitlosen aus ihren Scheiden empor, und in der Kreck schnitten die Krebse mit ihren Scheren einfallende Sonnenstrahlen ab, als hätten sie die Absicht, sich von dieser Ware für die kommende trübe Zeit Vorrat einzuheimsen.

Zwischen Gompertshausen und Gellershausen lagen nachmittag um vier Uhr an einem Rasenrand zwei Männer und ließen ihre Tonsuren, unter denen der Lichtmangel ironisch zu werden begann, von der wärmenden Sonne bescheinen. Der eine erhob sich und stieß den andern an mit der Mahnung: „Auf! ich hab Durst; müssen weiter!“ Da erhob sich auch der andre, gähnte, räusperte sich und fragte: „Hast du noch öppes in der Ficke, hinneröm?“ Der Gefragte packte seinen Kumpan plötzlich am Arm und zeigte nach dem sich durch den Grund ziehenden Weg: „Dort kommt ein junges Weibsbild; das gibt ein lustig Zeitvertreib. Lauf in den Büschen voraus und vertritt ihr den Weg; hältst sie fest! Ich komm nach. Will sie retour, läuft sie mir in die Händ.“

Muß mir Pillen abkauf, hinneröm!“, schmunzelte der andre und lief hastig davon.

Die lahme Magd in Gompertshausen hatte selbigen Tages spät ihr Lager verlassen; der Anstrengung und Aufregung des gestrigen Tages war eine große Ermüdung gefolgt, die durch einen langen guten Schlaf nun aber vollständig gehoben worden war. Elsa hatte ihren Fritz gefüttert und saß heitern Gemütes, voller Freude auf den nachmittägigen Besuch, den sie erwartete, bei ihrer Morgensuppe, die wegen der vorgerückten Zeit zugleich zum Mittagsessen ward. Das Russenvolk hatte in den Riten der Stubendecke die Köpfe in überirdischer Dunkelheit geborgen, sodaß sich die Reihen der Hinterleiber am Tageslicht wie Perlenschnüre ausnahmen. Herr Niedlich und Frau Flink unterhielten sich im Reiche unterirdischer Dunkelheit mit ihrer Sippe von der ergiebigen Jagd der verflossenen Nacht, und während die junkerlichen Haudegen des Spitzmausgeschlechts in der Aufzählung ihrer russenfresserischen Taten einander zu überbieten suchten, kosten die bescheidnen Jünglinge in den Ecken mit der verschämten weiblichen Jugend. Im Stall aber philosophierte sich der alte Fritz in der Erinnerung an das Hafertraktament auf der Festung über die am Berg ausgestandnen Strapazen schwungvoll hinweg.

Elsa hatte den Löffel in die leere Schüssel getan und betete eben:

 

Ach Herr, gib uns ein fruchtbar Jahr,

Den lieben Kornbaum uns bewahr;

Vor Teurung, Hunger, Seuch und Streit

Behüt uns, Herr, zu dieser Zeit!

 

Da wurde ihr Gebet von Pferdegetrappel unterbrochen. Kaum hatte Elsas Auge sich nach der Straße gerichtet, als sie die Hände zusammenschlug und der Thür zuhumpelte mit dem Ausruf: „Du liebstes Gottle! Der Hans! Der Hans!“

Der Tagwächter lehnte mit seinem langen Spieß an einem Gartenzaun, und Augen und Mund standen ihm weit offen, als die Reiter vor dem ärmlichen Haus der lahmen Magd abstiegen. Er wiegte sein schweres Haupt und brummte: „Solch ein Weibstier ist weit und breit net, wie unser Lindenelsa! Nun wird bald auch der Herzog und der Bischof noch kommen. Die hat ihr Wesen, wo net so leicht ein andres hinriechen darf.“ Und als ein paar Buben gelaufen kamen, die Pferde und Reiter zu begaffen, hielt der Tagwächter seinen Spieß vor und rief: „Zurück! Sötta Buam ham da nix zu schaffen!“

Der herzogliche Postreuter saß schon am Tisch vor der leeren Schüssel, und die lahme Magd trippelte in der größten Aufregung vor ihm hinüber und herüber und erging sich in den sonderbarsten Ausrufen vor Verwundrung über die Grüngelben von Eisenach, während Hinz die Pferde einstellte und sich dann im Dorfe nach Haber umtat. 

Die brave, treue Elsa war schier außer sich vor Freude, ihren lieben Hans plötzlich so staatsmäßig vor sich zu haben, frei und im ehrenhaften Grün und Gelb, und konnte sich nicht genug tun im Verwundern und Fragen. Als sichs aber fügte, daß der Herr Schweigmund von Unfind seinen Herrn, den Herzog Johann Ernst, fast mit Begeisterung lobte, zog die lahme Magd ihre Schultern in die Höhe und machte kleine Äuglein und sagte: „Der Herzog und seine Christine sind zwei, aber kein Paar! Als sie auf der Festung war, hat er sich net sehn lassen. Und wenn der Herzog in Eisenach ist, wird sich die Christine net dort sehn lassen. Wo ist sie denn alleweil?“

In Marksuhl. Der Herzog ist ein rechtschaffner Lutheraner und kann die Kalvinisterei nit leiden. Die Herzogin aber ist eine Kalvinistin. Und ob es ihr hundertmal verboten worden ist, läßt sie doch nicht ab von ihrer Alfanzerei und unterhält allerhand geheime Verbindungen. Auch die Alchimisterei mag mit im Spiel sein. Und ihr Bruder, der Hesse, hat ihr den Kopf noch mit verdrehen helfen, er hat heimlich böse Karten mit ihr gemischt: ich habe ein Dokumentlein darüber dem Herzog eingehändigt. Damit hab ich mir des Herzogs Gnad und Gunst wieder erworben.“

Du liebstes Gottle! Was so ein Hofherr net alles weiß! Aber ich habs immer gsagt: Was ein Häkchen werden will – und der gsund Baum wächst in die höhwärts.“

Der grüngelbe Postreuter erkundigte sich auch nach dem Martin Bötzinger und nach der Jungfer Ursula Böhm. Da rief Elsa: „Du meine Güte! Das war 'n Elend und Jammer! Das fahrend Ding liegt mir net so auf wie das Reißen, das zwischen die beiden gefahren ist. Der auf der Festing sagte zur Urschel, sie sollt ihn erlösen, und die Urschel – die Urschel hat darauf ein Wort gsagt, das dem Martin halter – na, als Giftpfeil ins Herz gefahrn ist. Und die Urschel hat gedacht, der Martin wolle nach Rudolstadt, und der Martin hat gedacht, die Urschel wolle den Peter Lautensack in Römhild frein. 'S war 'n Elend! Aber ich war auf der Festing und hab vom Martin andern Bescheid. Der geht net nach Rudolstadt. Ich war auch bei Böhms; die Urschel geht auch net nach Römhild. Mit all dem sakermenschten Gered wars nix. Und heut nachmittag besücht mich die Urschel; da will ich ihr ein Pflästerle aufleg. Aber 's ist ein eigensinnigs Herz, der Urschel ihrs. Ich werd zu tun kriegen.“

Was spracht Ihr da von Rudolstadt, Elsa?“

Ach, das ist 'ne lange Gschicht. In Rudolstadt ist ein Fräulein, das der Martin als Student in Jena hat kennen gelernt. Und der Pflegevater des Fräuleins – Susanna heißts – war der gute Freund von Martins Großvater, des Pfarrers in Bindlach, und war mit ihm aufs Leben verbunden, weil der Pflegevater des Fräuleins als Student dem Großvater des Martin in einer Schlägerei den Kopf net hat spalten lassen. Drum hat in dem Pflegehaus der Susanna der Martin als Freund gegolten, und da habn die jungen Blüter einander a weng kennen gelernt. Und wie Martin in Birkig Hauslehrer war, kam das Fräulein zum Herrn von Schaumberg in Mupperg auf Besuch, und Birkig und Mupperg liegt nach beisammn, und da haben sie einander gsehn. Aber nachher wars aus; denn der Martin ist auf die Festing kommun. – Auf dem Stahlbogenschießen in Koburg – ach du liebstes Gottle! Wo der Hans den alten Bötzinger ins Wasser gestürzt hat – laß die Bötzinger ungschorn, hatt ich ihm gsagt –, auf seln Stahlbogenschießen wars Ürschele in der Drangsal niedergeknört wordn, daß ihm die Nase hat geblut, und der Martin war bei der Hand und hat dem Ürschele aus der Bredouille geholfen. Aber das Ürschele hat a guts Gmerks. Und wies den Hauslehrer von der Festing gsehn hat, wars kein Ürschele net mehr, und ihr Herz war groß und tief und gewaltig wordn, daß drin eine Feuersbrunst ausgebrochen ist, und die Funken sind dem Martin um den Kopf geflogen – und es muß ihm auch öppes davon unter den Brustlatz gefalln sein; denn der Martin wollt hernach um die Jungfer Urschel frein. – Soweit war alles gut. Da hört die Urschel von dem Mupperger Edelfräuln – der Martin hat mir alles erzählt, wie ich gestern obn bei ihm war: aus wars! – das fahrend Ding hat die ganz Herrlichkeit zerrissen und zerzaust. Nun härmn und grämn sie sich beide schon Jahr und Tag. Aber heut noch will ich ihr den Kopf zurecht seen, wenn sie kömmt.“ –

Elsa bereitete ihrem Besuch ein „Eiergeschmeiß.“ Nach der Mahlzeit begab sie sich mit Hinz zu den Pferden in den Stall, daß „der Herr Marschall a weng Ruh bekäm.“

Um vier Uhr saßen die Grüngelben auf und galoppierten davon. Im Walde zwischen Gompertshausen und Gellershausen hielten die Reiter plötzlich an. „Hörtest du das Rufen, Hinz?“ – Wieder hörten sie einen Ruf – den Hilferuf einer weiblichen Stimme, begleitet von einer rohen Manneslache. Hans griff nach dem Pistol, und Hinz nach dem Degen. Wie im Flug sausten sie davon, und in wenig Sekunden waren beide die Zeugen einer brutalen Vergewaltsamung. Der Pillenhändler war eben im Begriff, der am Boden kauernden Jungfer Ursula Böhm die Hände, die Pater Willius hielt, auf den Rücken zu binden. Ursel blutete im Gesicht. Sie rang wie eine Verzweifelte.

Es krachte: des Pillenhändlers rechter Arm sank. Und in demselben Augenblick sprang Hinz vom Pferd und stieß dem Frevler den Degen zwischen die Schulterblätter.

Pater Willius ergriff die Flucht mit der Beschwerlichkeit eines Dachses im Herbst. Jungfer Ursel war ohnmächtig zusammengesunken. Den Pillenhändler warf Hinz auf die Seite und schnitt Zweige, den Todwunden damit zu bedecken, während der Herr von Unfind Ursels Hände befreite. Da schlug der Pillenhändler die Augen auf; sie blieben auf Hinz geheftet, und unter großer Anstrengung stieß der Sterbende hervor: „Schatzmeister! Letzte Löhnung! – Hinneröm!“

Marschall Schweigmund von Unfind hatte im ersten Augenblick seinen ehemaligen Genossen vom Straufhain erkannt und gedachte, ihn in seiner ersten Zornaufwallung durch Zerschmetterung des Frevelarmes zu strafen. Der Todesstoß, den Hinz geführt hatte, schmerzte den Marschall. Gleichwohl sah er sich nicht weiter um nach dem blutenden Rest aus seiner Schmachzeit, sondern blieb in voller Teilnahme der ohnmächtigen Jungfrau zugewandt, über deren blutentstelltem Antlitz goldige Bilder zitterten, die die Abendsonne durch das Gezweig ergoß.

Da begann sich die Jungfrau zu erheben. Auf den linken Arm gestützt, wandte sie das Haupt dem neben ihr stehenden Retter zu. Sie sah zu ihm auf: einige Sekunden heftete sich der verstörte Blick an die schöne männliche Erscheinung. Plötzlich schrie sie entsetzt auf: „Ha! der wilde Reiter!“

Wie von einer Viper gestochen schnellte sie empor. Aber Ursel konnte ihren Blick nicht abwenden von diesem furchtbaren Menschen, sie konnte nicht fliehen, sie begann zu zittern und flüsterte: „Der wilde Reiter! der den Bötzinger ins Wasser gestoßen hat!“

Der Herr Schweigmund von Unfind wurde blaß. „Der wilde Reiter, der mirs in Römhild antun wollte!“

Da ermannte sich der wilde Reiter und sagte mit weicher Stimme: „Jungfer Ursel, Ihr zittert. Ihr bebt vor Erregung. Seid ruhig, ich will Euch in Sicherheit bringen. Die Zeit meiner ungebändigten Jugend ist vorüber; ich gehe nicht mehr auf bösen Wegen; ich bin der Postreuter des Herzogs Johann Ernst von Eisenach. Gott sei Dank, daß ich Euch aus den Händen der rohen Gesellen retten konnte!“

Das eben erlebte Schreckliche brach in der Erinnerung der zum Bewußtsein Gekommenen mit erschütternder Macht herein. Ursel sah sich ängstlich um, und beim Anblick des Hinz vor dem verdeckten Toten schrie sie wieder laut auf und wollte fliehen. Aber Hans erfaßte sie an der Hand und redete ihr zu: „Ich lasse Euch nicht allein, Jungfer Ursel; ich habe Euch aus den Krallen höllischer Buben gerettet und habe mir dadurch das Recht erworben, Euch meinen Schutz angedeihen zu lassen bis unter Eurer Eltern Dach. Zuvörderst geleite ich Euch an den Bach, daß Ihr Euer Antlitz rein waschet von den Spuren der Unbill.“

Jungfer Ursel wurde ruhiger; es tauchten in ihr Erinnerungen auf aus den Schilderungen der Lindenelsa, die den Marschall Hans als den Freund Martin Bötzingers hinstellten. Die magische Gewalt, die für Ursel noch immer in dem wilden Reiter ruhte, verlor von ihrem diabolischen Charakter. Das anständige, edle Wesen des jungen Mannes begann zur Geltung zu kommen: Ursula Böhm folgte ihrem Retter und Ritter an den Bach und wusch sich das Blut aus dem Antlitz.

Ihr habt zu Elsa Geßnerin in Gompertshausen gewollt, Jungfer Ursel; aber in diesem Zustande werdet Ihr das wohl bleiben lassen. Ich kann nicht entdecken, wo das Blut in Euerm Gesicht herkommen konnte: fühlt Ihr denn irgendwo Schmerzen?“

Es wird wohl sein wie auf dem Stahlbogenschießen in Koburg, ich spür nichts. Aber ich bin müd.“

Hinz war herangekommen, und auch die Pferde hatten sich eingefunden. Da wandte sich der Herr Schweigmund von Unfind an seinen Diener: „Hinz, du reitest nach Gompertshausen zurück und erzählst der Elsa Geßnerin, was sich da zugetragen hat, und sagst ihr, daß die Jungfer Ursula Böhm ja wohl unversehrt aus der bösen Affaire davon gekommen, daß sie aber sehr matt und erschöpft sei, und daß ich sie in das Elternhaus zurückführen werde, und – so es Gott gefällt, und es der Herzenszustand der Jungfer zulässet – ich ihr auf dem Wege zu sagen gedächte, was die Elsa ihr hätt sagen wollen. Aber sie soll nur morgen früh anspannen und die Jungfer Böhm besuchen; dies könnte nichts schaden. Sodann gehst du zum Schulzen und meldest, was hier geschehen ist. Wir sind zur Zeugschaft jederzeit bereit. Du wirst uns noch einholen, ehe wir Heldburg erreichen.“

Hinz ritt davon.

Nun hob der ritterliche Hans die Jungfer Ursel auf seinen Fuchs und ging schweigend nebenher. Ursel fügte sich willenlos in ihr Sisal. Nach einem Viertelstündchen bat sie, absteigen zu dürfen, sie fühle sich stark genug zum Gehen.

Nun schritt der wilde Reiter still neben der bleichen Ursel, und das Löwengold folgte fromm nach.

Ich darf nun keine Zeit mehr verlieren“, hub Ursels Beschützer in ernstem aber ruhigem Ton an, „Euers Herzens Geschichte hat mir die Lindenelsa anvertraut, und ich kann bei Euch besser besorgen, was Euch frommt, als es die Elsa gekonnt hätte. Ich weiß nicht allein, wie es um Euch steht, sondern kenne auch des Hauslehrers Bötzinger Herzeleid. Was aber Euch allein heilen und glücklich machen kann, das ist mein Geheimnis. Bin ich Euch sonst als der Gottseibeiuns erschienen, so erscheine ich Euch heute als ein Bote des Himmels. Zürnet mir nicht, wenn ich reden muß von dem, was Euer Herz erfüllt, wenn ich den Schleier hinwegnehme, der Euer Heiligtum birgt. Die Welt solls nicht erschauen, aber Eure Augen sollen aufleuchten, wenn Euch die Wahrheit entgegentritt. Ihr traget den Martin Bötzinger in Euerm Herzen und seid in dem Wahn, er gehöre Euch nicht.“

Jungfer Ursel bedeckte bei diesen Worten mit beiden Händen das Gesicht und begann zu schluchzen; sie sank auf den Rand des Weges nieder und ließ dem vollen Strom ihres Schmerzes freien Lauf. Schweigmund von Unfind setzte sich ihr zur Seite. Das Löwengold begann zwischen dem Gebüsch zu weiden.

Ihr ahnet nicht, wie eng mein Geschick mit dem Eurigen verknüpft ist“, fuhr der ritterliche Aufklärer fort. „Von dem Koburger Stahlbogenschießen an sind wir durch des Lebens Würfel aneinander gekettet. Das war mir sonst nicht bewußt; das ist mir erst spät kund worden. Als mich Rachedurst und Verzweiflung in die Wälder getrieben hatte, sah ich Euch oft, ohne daß Ihr es wußtet. Es entstand in mir eine unbändige Sehnsucht nach Euch; auf dem Pfingsttanz in Römhild hat Euch die Glut meiner Sehnsucht getroffen. Verzeiht mir heute, daß ich Euch damals so erschreckt habe. Es ist alles anders geworden – ganz anders.“

Nach einer längern Pause fuhr Hans fort: „Wie des Bötzingers Geschick und das meinige durch der Würfel tückische Nummern unheilvoll ineinander verflochten sind, das wißt Ihr zum Teil durch die Elsa. Möge der Allmächtige im Himmel helfen, daß sich dieses unheilvolle Geflecht bald zum besten löse!“

Da sanken der Jungfrau die Hände vom Gesicht herab in den Schoß, und ein Blick des Zutrauens traf aus dem großen blauen Auge das Antlitz des Sprechenden. Dann senkten sich die Lider, und Ursel sah vor sich hin, als warte sie auf weiteres aus dem Munde dieses aufrichtigen Mannes.

Daß vom Stahlbogenschießen her Euer Lebenslauf und Euers Herzens Geschichte an mein und des Bötzingers Schicksal geknüpft wäre, ist dem Martin auch erst spät deutlich geworden – zu einer Zeit, als der Menschen Verkehrtheit und Grausamkeit ihn schon mit Dornen und Disteln gepeitscht hatte. Ihr wißt von einem Edelfräulein, und Martin weiß von ihm, und ich weiß von ihm. Sie ist die vierte Seele, die mit uns zu einem unauflöslichen Ring zusammentritt.“

Jungfer Ursel barg ihr Anlitz wieder hinter den Händen.

Das Edelfräulein ist in Jena von Pflegeeltern auferzogen worden. Als Martin dort studierte, hat er zufällig in dem Pflegevater des Fräuleins Susanna – so heißt sie – einen Studienfreund seines Bindlacher Großvaters entdeckt. Daher rührt die Bekanntschaft zwischen Martin und dem Fräulein. Sie muß aber nicht tief Wurzel geschlagen haben; denn Fräulein Susanna hat den Martin vergessen, und Martins Seele hanget an Euch.“

Nach einer Pause fragte Jungfer Ursel flüsternd: „Woran soll ichs erkennen?“

Es ist mein Geheimnis. Wenn ichs Euch offenbare, werdet Ihr glauben. Ich will es in Euern Busen versenken; es soll ein Teil des Euern werden. Wißt denn, die Jugendbekannte des Martin, das Fräulein Susanna in Rudolstadt, ist mir heimlich verlobt!“

Da sprang Jungfer Ursel empor. Sie preßte die Hände fest auf die Brust und wandte ihr blasses Antlitz dem Himmel zu: eine unbeschreibliche Inbrunst sprach aus den verklärten Zügen. Schweigmund von Unfind hatte sich ebenfalls erhoben. Die betende Jungfrau wirkte auf ihn wie eine Heilige.

Dann wandte sich Ursula dem jungen Manne zu und reichte ihm die Hand. Sie schien ihm danken zu wollen; aber es kam kein Wort über die Lippen.

Der trennende Bleiberg wankte und schwankte und stürzte in sich zusammen, und mildglänzende Bogen spannten sich da aus, wo er gestanden hatte, und himmlische Heerscharen schwebten darüber und darunter und sangen den großen, weltumspannenden Hymnus von der Liebe, daß es der Jungfrau wie Himmelswonne durch Sinn und Herz flutete und ihr tränentauendes Haupt dem Marschall Schweigmund von Unfind an die Brust sank.

Wiehernd kam in gewaltigen Säßen das Löwengold aus dem Gebüsch heran und stieß mit seinen Sammetlippen dem Herrn ins Gesicht.

Ursula fuhr erschrocken zurück.

Aber aus dem Wald drang das Gelächter eines Verzweifelten.

Was war das?“, rief Herr von Unfind.

Ursel begann raschen Schrittes des Weges zu gehen, und ihr Beschützer geleitete sie weiter. „Ich begleite Euch bis an die Stadt; es beginnt zu dunkeln.“

Vor dem Stadttor nahm der herzogliche Postreuter von der Jungfer Ursel Abschied mit den Worten: „Das war ein schlimmer Tag für Euch. Aber wenn Euch mein Geheimnis zum Guten ausschlägt, so werdet Ihr bald wieder stark werden. Bleibt gesund! Ob wir uns je einmal wieder sehen? Werdet des braven Martin glücklich Weib! Behüt Euch Gott!“

Hinz war noch zur rechten Zeit nachgekommen.

Der Postreuter schwang sich auf sein Pferd, und nun ging es wie im Flug nach der Residenz Koburg.

Jungfer Ursel schritt wie eine Traumwandlerin dem Elternhause zu. Das Erlebte jagte sich im bunten Durcheinander in ihrem Gehirn: es kam kein Gedanke zur Gestaltung.

So ging es auch im Schlafe weiter; ohne Rast jagte im Traume ein Schreckbild das andre. Und dazwischen glänzten die lichten Bogen und flutete der Hymnus der Liebe.

Als der Sonne erstes Lächeln am Himmel schimmerte, zog es auch wie ein Lächeln des Friedens über das Antlitz der Jungfer Ursel. Und als ihr endlich die wärmenden Lichtgeschosse der Himmelskönigin die Augen aufthaten und ihr erster Blick auf die Muskatblättlein und Marumverum- und Rosmarinstengel fiel: da war es doch, als grünten sie heute lustiger. Und in kaum vernehmbarem Gesang flüsterte es von den roten Lippen:

 

Gelbveigelein und Rosmarin

Steckt jetzo mir ins Haar:

Will meinem Schatz entgegenziehn,

So in der Fremde war.

 

Gelbveigelein und Rosmarin

Bedeuten Lieb und Treu;

Und wenn wir zu dem Kirchlein ziehn,

Ist Lieb und Treu dabei.