Martin Bötzinger. Ein Lebens- und Zeitbild aus dem 17. Jahrhundert

 

Dreizehntes Kapitel

Evovae!

 

Am Mittwoch nach Pfingsten, vormittag neun Uhr wars.

Der Ratsherr Valtin Hübner in Römhild nahm ein Schlückchen aus dem grünen Gläschen, und sein Nachbar, der Schneider, wischte sich ärgerlich das Maul – das ganze Städtchen aber brummte wie eine große Maultrommel, denn sein Maulwerk war erfüllt von dem Grafenblendwerk des Teufels am zweiten Feiertag auf dem Rathaus und von dem Einbruch bei Hübners und von den Teufelsbirken, und die Hommelschristel sagte zur Frau Lautensack: „Was Bessers hat sie sein wolln als die Römhilder Mädle und dacht, 's Häsle hätt sie geleckt; aber es ist ihr bekommen wie dem Hunde das Gras“; – die Lindenelsa in Gompertshausen bestieg ihren Karren, um sich von ihrem alten Fritz in die Welt hinein fahren zu lassen; – in Trappstadt im Rößle frühstückte Martin Bötzinger mit seinem heimkehrenden Freund Jörg Eisentraut, dem er bis dahin das Geleit gegeben hatte, und der Pater Willius saß bereits bei der zweiten Kanne dieses Tages, um seinen verbrieften Verbindlichkeiten die letzte Ölung zu geben – aber Martin gab sich ihm nicht zu erkennen; Marschall Hans saß auf seiner Burg und sah in das Feuer, über dem sein Koch ein Kalb am Spieße drehte; – Ursel nähte vor dem Fenster an einem Hemd, und ihre Mutter stand vor dem Loch im Stall und weinte um die gestohlnen Kälber; – und der Ratsherr Michael Böhm trat eben in die Studierstube des Herrn Superintendenten Sebaldus Krug.

Er wurde freundlich empfangen. Als er dem würdigen Herrn gegenübersaß und eben gedachte, sein Anliegen vorzubringen, sah er wie von ohngefähr nach dem offenstehenden Fenster, stand auf und schob es zu.

Herr Superdent, 's ist net zu traun in der Sache, die mich zu Ew. Hochwürden führt. Es ist eine geheime Sache, also daß ich nicht bei offnem Fenster ihrer gedenken dürfte, maßen unsichtbare Spionierer der schwarzen Kunst leichtlich verderben könnten, was Ew. Hochwürden weise Entschließungen anordnen möchten. Es ist Ihm sicherlich auch bekannt, Herr Superdent, was Gaunerstücklein und grobe Diebstähle jetzo überall im Land herum praktiziert werden, also daß nit mehr das Kalb in der Kuh sicher ist.“

Ja wohl, Herr Böhm, hab zu meinem Leidwesen hören müssen, daß es Ihn auch betroffen hat.“

Ist nit permittieret, wies zugeht. Bin da mit meiner Urschel zu den Feiertagen in Römhild auf Besuch bei meinem Gevatter Valtin Hübner, läßt der Räuberhauptmann, der sein Nest auf dem Straufhain hat, meiner Tochter in Römhild Maien setzen, kommt selbst nach Römhild geritten wie ein Graf, tanzt auf dem Rathaus mit meiner Tochter gewaltsam, läßt bei meinem Gevatter einbrechen und zu Haus in Heldburg mir die Kälber stehlen. In Trappstadt haben sie dem Fuhrmannsnickel das Pferdgeld gestohln und obn auf der Burg Küche und Keller ausgeräumt. – Ist unerhört und nit zu glauben, wenns gleich wahr ist und ichs bezeugen kann. 'S wär nit möglich sowas, wenn die schwarz Kunst nit im Spiel wär. Und weils die schwarz Kunst ist, komm ich zu Ihm, Herr Superdent!“

Mein lieber Herr Böhm! Meine Macht reicht nicht bis auf den Straufhain. Da muß der Landesherr mit Pulver und Blei und mit Stahl und Pfahl helfen.“

Mit Gewalt, Herr Superdent, ist nix auszurichten bei des Teufels Brut. Wenn der Hauptmann, ders mit dem Teufel hat, gefangen wird, verläuft sich sein Gesindel schon. Und wie der zu kriegen ist, weiß ich, Herr Superdent. Vier bis sechs Mann sind nötig dazu; aber die muß Er erst einsegnen, Herr Superdent, daß des Bösen Macht an ihnen abprallt.“

Wie ist sein Plan, Herr Böhm? Laß Er hören!“

Der Höllenbraten da auf dem Straufhain war vorige Woche um Mitternacht bei der Lindenelsa in Gompertshausen, und in dieser Woche will er wieder zu ihr kommen. Die Lindenelsa hat meiner Urschel alles erzählt. Seine Mutter war eine Hex und ist Anno 9 verbrannt worden. Und weil die Gompertshäuser lahm Magd ihm das Leben gerettet, wie er noch ein Bub war, und sagt, seine Mutter wär unschuldig gewesen, hängt der Erzspitzbub an ihr. – So nun die Woche alle Nacht richtig gewacht würde in Gompertshausen, könnt das Land befreit werden, so jetzo des Teufels Domäne ist. Aber man wird sich des Hexenmeisters nit bemächtigen, so die Geistlichkeit nit behilflich ist mit der Kraft des Wortes Gottes und des heiligen Priesteramtes.“

Herr Böhm, Er hat recht. Der Bürgermeister war ja wohl schon in Koburg wegen dieser Sache. Aber dort denkt man gewißlich, es seien ordinäre Schnapphähne, so unsre Gegend molestieren, und man möge sich ein wenig gedulden. Ich will aber nicht in meiner Diözes von des Teufels Künsten ein Schäflein ums andre einstricken lassen zur ewigen Verdammnis. Der Teufel ist listig und hat seinen Knecht an die rechte Schmiede gestellt: hat sich ihm die Lindenelsa verschrieben, dann greift die Seelenfängerei weiter um sich, denn die Lindenelsa gilt was.“

Habs auch gedacht, Herr Superdent.“

Sicherlich, sicherlich, Herr Böhm! Da muß flugs alles Ernstes und Eifers eingeschritten werden. Geh Er nach Haus und laß Er anspannen; ich werde sogleich nach Koburg fahren zum Ordinarius des Schöppenstuhles. Und Er fährt ja wohl mit, Herr Böhm, daß er die Klage, die ich führen will, erhärten kann nach bestem Wissen und Gewissen.“

Eine halbe Stunde nach dieser Unterredung fuhren die beiden Herren zum Tor hinaus gen Koburg.

Schon am folgenden Tag, am Donnerstag, als die Sonne untergegangen war, kamen von verschiednen Seiten her einzeln – um nicht auffällig zu werden – sechs sogenannte Einspänner oder Geleitsreuter bei Gompertshausen im Wald zusammen. Im Wirtshaus zu Gompertshausen saß der Herr Superintendent Sebaldus Krug wie von ohngefähr. Und als es dunkel genug war, kam der Kommandierende der Geleitsreuter auch wie zufällig ins Wirtshaus. Während der Wirt dem neuen Gaste einen Krug Bier holte, flüsterte der Polizeimann: „Alles bereit, Hochwürden! Werde Ihn hernach zur Mannschaft führen von ausgezeichneter Permelenz und Perforschion.“

Man unterhielt sich über allerhand gleichgiltige Dinge, und der Wirt meinte: „Hat sich gut gemacht, Herr Superdent! Kriegt nun auf den Abend noch sicheres Geleit.“

Der Geleitsreuter hatte ausgetrunken, und der Herr Superintendent brach mit ihm auf. Draußen vor dem Dorf überschritten sie die Wiese und verschwanden im Wald. Hinter einer großen Eiche, ringsum von dichtem Gebüsch verdeckt, lagerten die Männer der öffentlichen Sicherheit. Bei dem Herannahen des Geistlichen erhoben sich alle schweigend und stellten sich in einem Kreis auf. Einer trat auf den Geistlichen zu und sagte: „Hier, Hochwürden! Das hat mir der Ratsherr Michael Böhm mitgegeben.“

Seine Hochwürden entfaltete ein ihm überreichtes Bündel: es war der Priesterrock des Superintendenten und die Bibel. Nachdem er den Rock angelegt hatte, berührte er mit seiner Stirn das heilige Buch, warf dann den Kopf in die Höh und begann, für alle deutlich vernehmbar, aber nicht das Murmeln der Kreck übertönend: „Im Namen der heiligen Dreifaltigkeit, Amen! Als verordneter Diener Gottes und Verkündiger seines heiligen Wortes, so in meinen Händen ruhet, bin ich ein Wächter auf der Zinne, ob sich der Feind Zion nahe, bin ich ein Hirte der Herde Jesu in dieser Hürde, ob sich der Wolf zeige. O, Schrecken und Jammer über selbiges arme Land, in welches Beelzebub mit seiner Rotte ist eingezogen und dräuet, einen Thron aufzurichten mitten unter uns. Aber die Gnade des Herrn währet für und für, und er hat uns einen Fingerzeig gegeben, daß er uns will seine Barmherzigkeit schmecken und des Teufels Knecht will in unsre Hände kommen lassen, so wir zugreifen. Und euch hat er verordnet, zu greifen und zu binden den Wolf in der Hürde, daß er geschleudert werde in den Höllenpfuhl, von dannen er aufgestiegen ist. Und die Kraft des heiligen Wortes Gottes ströme aus und setze sich auf euch, und die Kraft des Priesters Gottes gehe aus und hafte an euch, also daß die Kraft der heiligen Dreifaltigkeit euch umhülle das Haupt mit jedem Haar und ohne Haar, die Augen, Ohren und alle Sinne, das Maul und den Nacken und ganzen Hals, Schultern und Arme und Hände, Rücken und Brust, Beine und Füße und den ganzen Leib; also daß abprallen müssen an euch alle Künste der Hölle, wie sie heißen mögen, gleich den Pfeilen des Feindes an einer festen Burg, und ihr gewappnet und gerüstet seid nieder zu werfen den Gestank der schwarzen Kunst. Und der Herr segne und behüte euch u. s. w.“

Nach beendigter Einsegnung zog der Herr Superintendent Sebaldus Krug seinen Priesterrock aus, legte ihn zusammen und übergab ihn samt der Bibel dem Kommandierenden. Dieser gab Befehl: „Hier stilles Lager – mit gehöriger Permelenz und Perforschion! – bis ich zurückkomme!“ und begleitete den Superintendenten ein Stück auf dem Wege nach Gellershausen. Seine Begleitung war nicht lange nötig, denn bald stießen sie auf die entgegenkommenden Herren, den Herrn Bürgermeister Tobias Wehner und den Ratsherrn Michael Böhm, der den Priesterrock und die Bibel zur Weiterbeförderung übernahm. Der Obergeleitsreuter ging zu seiner Mannschaft zurück, und die Heldburger Herren schritten ernsſt und schweigsam dem Städtchen mit der Nürnberger Mauer zu. In Gompertshausen war sogar die Vorsichtsmaßregel getroffen worden, daß man den Hundebesitzern aufgegeben hatte, bis auf weiteres nachts von neun Uhr an die vierbeinigen Wächter in der Stube zu behalten. Man dachte sich nichts Besondres dabei. Einer meinte: „Jägerpossen aus der Residenz!“

Vor Mitternacht hatten sich die Geleitsreuter auf der Seite des Dorfes, von wo her der Marschall vom Straufhain einziehen möchte, in Gräben, hinter Gebüsch, Backöfen, oder wie es eben ging, versteckt. Aber sie lauerten vergeblich. Gegen drei Uhr zogen sie ab nach ihren Quartieren zu ihren Pferden in den umherliegenden Ortschaften.

Am folgenden Abend ward um dieselbe Zeit unter derselben Eiche mit den Geleitsreutern vom Herrn Superintendenten Sebaldus Krug die Weihe und Einsegnung aufs neue vorgenommen. So lautete für dieses außerordentliche Priestergeschäft ausdrücklich die Instruktion, die sich Herr Krug beim „General“ ausgewirkt hatte: „Allabendliche feierliche Einsegnung der Geleitsreuter durch den Priester, bis man des Bösen habhaftig!“

Von halb elf Uhr an saßen die eingesegneten Geleitsreuter in ihren Winkeln wieder auf der Lauer, die ausgezognen Stiefeln neben sich. Es war langweilig und anstrengend für sie, dieses stille Kauern und Lauern, und es wäre ihnen das ganz Ungewohnte wohl kaum so gelungen, hätte sie nicht die Gewalt der Priesterrede gleichsam von der gemeinen Welt losgelöst und in einen geheiligten Dienst gestellt.

Der würdevolle, hellsichtige Eulenvater auf der fränkischen Leuchte hatte mit seiner Madame einige beutereiche Stunden durchschmaust und rief, um etwas von dem Überschuß seines Wohlbehagens los zu werden, in die Nacht hinein: „Evovae!“ Madame, ganz hingerissen, rief nach: „Evovae!“ Das Eulenpaar auf dem nächsten Berg rief nach: „Evovae!“ und so fort bis zum Straufhain und zum Weinberg bei Gompertshausen und immer weiter, nach der Rhön hin und nach dem Thüringer Walde verbreitete sich der Ruf des Eulenvaters von der fränkischen Leuchte und hätte gewiß die ganze Erde umzogen, wäre die Nacht lang genug gewesen.

Am Fenster der Lindenelsa pochte es leise, und drinnen riefs: „Gleich, Hans! – Du meine Güte!“ – Bald öffnete sich die Haustür, und Marschall Hans schlüpfte in das Häuschen. – Die Tür war so eingerichtet, daß sie sich in eine obere und eine untere Hälfte teilte; die obere Hälfte war mit einer Haspel, die sich über eine Klammer schob, durch die dann ein Pflock gesteckt wurde, verschlossen, und an dem Schloß der untern Hälfte war weder Riegel noch Schlüssel: der äußere Drücker war abschraubbar. Der Obergeleitsreuter hatte sich aber einen Drücker zu verschaffen gewußt, der an die Tür der Lindenelsa paßte.

Als „der Fuchs in den Bau“ eingezogen war, zogen sich leise wie Katzen die Geleitsreuter, ihre Stiefel in der Hand tragend, zusammen, und einer flüsterte: „Ist mit seiner schwarzen Kunst net weit her; hat sich erst von der lahmen Magd öffnen lassen müssen. Was ein richtiger Kerl ist, muß durchs Drückerloch schlüpfen.“

Hier die Stiefeln aufgestellt nach der Reihe! Mit Permelenz und Perforschion!“, kommandierte der Obergeleitsreuter, „wenn wir den Kerl gebunden haben, daß er kein Glied rühren kann, dann zieht ihr die Stiefel wieder an! Jetzt fallen wir Mann hoch in vier die Stube; Christoph und Henner, ihr postiert euch vor die Haustür mit gehöriger Permelenz und Perforschion!“

Der Obergeleitsreuter mit dem Nachdrücker in der Hand schlich voraus.

In das trauliche Stübchen der Lindenelsa, die sich auf die Einkehr ihres Lieblings und einstmaligen Pfleglings schon die ganze Woche wie eine Mutter gefreut hatte, stürzten plötzlich vier Mann und warfen sich auf den Marschall Hans. Da schrie Elsa, als ging es ihr ans Leben.

In dem ersten Augenblick schleuderte Hans die Anprallenden von sich; aber er kam nur einen Schritt vorwärts: schon hatte man ihm die Hände auf den Rücken geschlossen.

Es gibt noch immer Mittel und Wege, die Hexenmeister zu bändigen mit Permelenz und Perforschion. Wenn Sie Ihren guten Freund noch einmal sehn will, Elsa Geßnerin, so muß sie nach Koburg kommen, eh der Scheiterhaufen angezündet wird.“

Auf diese Worte des Obergeleitsreuters erhob Elsa ein so klägliches Geschrei, daß es einen Stein hätte erweichen können: „Nehmt mich, verbrennt mich elends Mensch! Mir braucht ihr die Händ net zu binden! Der da ist unschuldig! Ich hab ihn verraten, den unschuldigen Wurm! – Und die Urschel Böhm hat ihn verraten! – O weh! Weh! Weh!“

Schweigend, zähneknirschend verließ Hans das Häuschen; der letzte Rest eines Daheim versank hinter ihm in Grauen. In Aussicht stand ihm Folter und Scheiterhaufen.

Die Geleitsreuter zogen ihre Stiefel an und traten dann damit auf dem Wege nach Gellershausen – als machte es ihnen Freude, sich für den ihnen auferlegt gewesenen Schleichzwang nun entschädigen zu können – dermaßen auf, daß es im Wald widerhallte. Der Widerhall ihrer schweren Tritte war ein Genuß für sie.

In Heldburg auf dem Rathaus wurde der Delinquent an die Säule in der Mitte der Stube gebunden, und dann wurden ihm zum Überfluß auch noch die Füße geschlossen. Die Geleitsreuter nahmen Platz an einer Tafel und begannen zu zechen. Und der Ratswirt trug auf, daß sich die Tafel bog, und rief animierend: „Was in die Haut will! Wird schon bezahlt werden! Das ist'n Fang! Zwei Fliegen mit einem Schlag: einen Spitzbubenhauptmann und einen Hexenmeister! Wird sich der Herr Superdent freuen!“

Mit dem frühsten Morgen ward dem Herrn Superintendenten durch den Obergeleitsreuter gemeldet, daß durch der Hochwürden kräftige Besprechung und Einsegnung sowohl als durch die „Permelenz“ der geleitsreuterlichen „Perforschion“ es gelungen sei, des Höllenbratens habhaft zu werden, und daß dieser auf der Ratsstube an die Säule geschlossen, männiglich zur Kundgebung seines Abscheus und Ekels, so jeder fromme Christ haben müsse vor solchem Rabenaas.

Der Herr Superintendent verfügte sich sofort auf das Rathaus zur Einsichtnahme des Sachverhalts in siegestrunkner priesterlicher Eitelkeit. Er fand schon Herrn Michael Böhm, Herrn Tobias Wehner und eine Masse Neugieriger versammelt, wie früh es auch noch am Tag war.

Als die Kunde von der Einbringung des Räuberhauptmanns in das Haus des Ratsherrn Michael Böhm kam, hatte noch nicht die Morgenandacht stattgefunden. Aber der Herr Böhm begab sich sofort aufs Rathaus, und seine Ehewirtin ging in die Schlafkammer ihrer Tochter und rief: „Urschel, die Nacht habn sie den „wilden Reiter“ gefangen bei der Lindenelsa in Gompertshausen. Er liegt auf dem Rathaus geschlossen, alleweil ist der Vater hin.“

Ach Gott!“, schrie Ursula laut auf und sprang aus dem Bett; bei der Lindenelsa! Daran bin ich schuld! Ach, daß mir der Mund zugewachsen wär, eh ich der Lindenelsa Geheimnis verraten hab! Das gibt der armen, elenden, lahmen Magd den Tod, und sterbend wird sie mich verfluchen. Nun hab ich keine frohe Stunde mehr auf der Welt. O der Unglücksmai! Wär er nie gekommen!“ Bald fuhr sich Ursula mit beiden Händen in das aufgelöste Haar und starrte vor sich hin, bald blickte sie gen Himmel und rang die Hände, bald kniete sie nieder vor ihrem Bett und barg das Gesicht in dem Flaumberg; und immer folgten dazwischen herzzerreißende Ausbrüche ihrer Klage. Der Mutter Zuspruch half nichts, und sie entfernte sich und schickte den Knecht aufs Rathaus und ließ ihren Eheherrn bitten, schleunigt nach Hause zu kommen.

Auch der Herr Michael Böhm vermochte nichts gegen den Jammer seines Kindes. Es blieb nichts übrig, als den Einspruch Seiner Hochwürden anzurufen. Mit Hilfe und unter beständiger Begütigung der Mutter war Ursulas Haar in Flechten gebracht und das Kind endlich so weit fertig geworden, daß es in die Wohnstube gehen konnte, den Herrn Superintendenten zu erwarten.

Während beim Ratsherren Michael Böhm der Herr Superintendent im Kreise der kleinen Familie eine salbungsvolle Einleitung gesprochen hatte und nun überging, speziell über den aufregenden Fall zu handeln, ging der Transport des geschlossenen Marschalls Hans vor sich. Eine Rotte Buben und fauler Kerle eröffnete den Zug als Musikbande. Sie hatten alte Gießkannen, Sensen, Triangel und Querpfeifen und machten damit einen Höllenlärm. Fast die ganze Bevölkerung des Städtchens bildete Spalier oder zog dem Spektakel nach, und hie und da fing eine Mutter ihren „durchgebrannten“ kleinen „Hemdleuter“ aus der Menge heraus, daß er nicht getreten werde.

Die Heldburger Einwohnerschaft hatte sich wieder in die Häuser zerteilt und saß bei der Morgensuppe; nur hier und dort an einer Ecke oder an einem Brunnen war noch eine kleine Gruppe Weiber hangen geblieben.

Den Festungsberg hinan aber fuhrwerkte die lahme Magd von Gompertshausen. Die Räder ihres Karrens knurrten, und das Fell des alten Fritz rauchte in der Morgenkühle. „Fritzle! Jüah, Fritz! Wird dir sauer; aber hast die Gicht net und hast noch keinen Menschen verraten! Freilich, zeither hast du immer nur die Els zu ziehn gehabt und ihre Gicht: heut hast du schwerer, hast noch ne Sündenschuld zu schleppen. Die drückt mich bald mit samt dem Karrn in Gottes Erdboden hinein, drum schwitzt du so, Fritz! Ach, du Allwaltender im Himmel! Der Sündenpfuhl in der Welt wird immer ärger! Die elend Lindenels ist nun auch noch unter die Schlechten, Niederträchtigen, unter die Auswürf und Gestänker gegangen! – Jüah, Fritz!“

Das Fuhrwerk war am Burgtor angekommen, und ein Knecht trat heraus und fragte verwundert: „Na, Elsa, was soll das heißen? Mit dem frühen Morgen schon auf der Burg? Führt Euch doch sonst Euer Weg net zu uns; was ist los?“

Was los ist? Der Teufel ist los! Ich will und muß den Hauslehrer sprechen. Geht hin und sagts ihm, die Lindenels wär da!“

Hab keine Zeit; muß in die Stadt und flugs fragen, was das vorhin für ein Aufzug und Spektakel war.“

Dazu ist immer noch Zeit, das zu erfahrn; könnts allenfalls von mir hörn. Jetzt geht erst zum Herrn Martin Bötzinger und sagt ihm, daß ich da wär!“

Der Knecht stutzte vor dem Ton, den die lahme Magd anschlug, ging in die Burg und kam nach Verlauf weniger Minuten wieder. Im Vorbeigehen brummte er, aber ohne die Elsa anzusehen: „Hab Euer Gnaden angemeldt!“

Sie brauchte nicht lange zu warten; Martin Bötzinger kam bald heraus, der einzige Mensch in der Welt, dem sie ihr Anliegen und Elend offen darlegen durfte: sie fing an, krampfhaft zu schluchzen. Herr Bötzinger trat an den Karren heran, legte dem aufgeregten Weib die Hand auf das Haupt und suchte es zu beruhigen: „Seid stille, Elsa! Was Euch auch getroffen haben mag, ich will helfen mit Gottes Hilfe, soweit meine Kräfte reichen.“

Er kann mir net helfen und kann ihm net helfen!“

Wem denn noch außer Euch?“

Dem Hans! Heut nacht habn sie den Hans gefangen in meiner Stuben; o, ich elends Mensch! Und habn ihn geschlossen und führn ihn alleweil nach Koburg in die Folterkammer und – wie lang wirds dauern? – auf den Scheiterhaufen!“

Also doch den Sohn auch noch!“, rief tief erschüttert Herr Bötzinger. Nach einer längern Pause sagte er: „Ich kann das hier nicht ausempfinden; ich muß auf mein Zimmer!“

Aber ich hab Notwendigs mit Ihm zu reden!“

So müßt Ihr auf mein Zimmer kommen. Ich werde gleich eine Magd schicken; die Euch hilft.“ Mit diesen Worten verschwand Bötzinger. Bald kam eine ältere Magd, hob die Elsa von ihrem Karren, schirrte den Gaul aus und führte ihn in den Stall, legte ihm Futter vor und brachte dann die lahme Magd von Gompertshausen auf das Zimmer des Hauslehrers, der für diesen Vormittag seinen Schülern schon „frei“ gegeben hatte.

Das war eine denkwürdige Sitzung, die an diesem Vormittag auf der Feste Heldburg stattfand unter dem Vorsitz der lahmen Magd von Gompertshausen: das Kollegium bestand aus ihr und dem Martin Bötzinger. Zwei ohnmächtige Menschen gegenüber dem Schöppenstuhl in Koburg mit seinem beinahe allmächtigen Ordinarius samt den geistlichen Räten, dem Generalsuperintendenten Dr. Fink, Hofprediger Dr. Hugo, und wie sie alle hießen. Aber dieses gebrechliche Weib und dieser simple Hauslehrer kamen nach langer Beratung zu dem Resultat: Der Hans ist unschuldig. Die ihn verbrennen wollen, sind die Schuldigen. Der Hans darf nicht verbrannt, er muß gerettet werden!

Ein Protokoll wurde nicht geführt; aber diese Sitzung hat doch ihre Früchte getragen.

Martin Bötzinger versprach beim Abschied der Lindenelsa, sie heute gegen abend zu besuchen. Die Burgmagd half ihr wieder auf den Karren und spannte ihren Gaul ein, und nachdem ein Knecht auf das Bitten der Elsa ihr ein paar Klapperstecken zur Hemmung in die Räder gelegt hatte, ging das Fuhrwerk endlich, ärger als eine Mühle klappernd, den Berg hinab.